In einem zweiten Schritt diskutieren wir die Frage, ob eine ethische Verpflichtung zur Begleitsedierung auch in solchen Fällen bestehen kann, in denen keine medizinische Indikation im engeren Sinne vorliegt, sondern lediglich ein nachvollziehbares Bedürfnis auf Seiten des Patienten. Am Beispiel des existenziellen Leidens argumentieren wir, Nöte und Bedürfnisse aller Art anzuerkennen, die mit einer Sedierung gelindert werden können. Zudem sollte der Wunsch nach Begleitsedierung so weit wie möglich als Ausdruck des Rechts eines Patienten auf ein selbstbestimmtes Sterben respektiert werden.
Begleitsedierung bei anderenfalls leidvollem Behandlungsverzicht
In diesem Beispiel hat die Patientin nicht nur das Recht, ein Ende der lebenserhaltenden Beatmung zu verlangen, sondern auch das Recht auf eine Begleitsedierung, da das Abstellen des Beatmungsgeräts andernfalls mit qualvollen Erstickungsgefühlen einherginge. Eine Begleitsedierung ist hier also medizinisch eindeutig „indiziert“, auch wenn der Abbruch der Beatmung als solcher aus medizinischer Sicht nicht indiziert ist, sondern auf der Ablehnung der Patientin beruht. Die Sedierung zu unterlassen, wäre ethisch eine schwerwiegende Verletzung der ärztlichen Fürsorgepflicht, strafrechtlich eine Körperverletzung durch Unterlassung (Hardtung
2021, Rn. 40; Ulsenheimer
2019, Rn. 30) sowie, als gravierender Behandlungsfehler, eine Verletzung der Pflichten aus dem zivilrechtlichen Behandlungsvertrag. Auch wenn der Behandlungsabbruch patientenseitig veranlasst wurde, fällt die Verhinderung möglicher Begleitumstände – ein vermeidbar leidvoller Tod – unter die ärztliche Fürsorgepflicht bzw. die aus der ärztlichen Garantenstellung und dem Behandlungsvertrag folgenden rechtlichen Handlungspflichten. Auch in anderen Konstellationen erkennen wir eine
strikte ärztliche Behandlungspflicht unabhängig davon an, ob die erforderlich gewordene Leidlinderung sich im Vorfeld hätte vermeiden lassen.
Begleitsedierung zur Vermeidung „existenziellen Leidens“
In Fällen, in denen eine Begleitsedierung nicht erbeten wird, um quälende Symptome (etwa von Schmerzen oder Atemnot) abzumildern, sondern das Erleben des eigenen Sterbens zu verhindern, wird sie eher abgelehnt. Ist eine Ablehnung in solchen Fällen berechtigt? Dazu der folgende Fall:
Der Arzt in unserer Schilderung verweist auf die fehlende Indikation. Vielfach wird die Linderung „existenziellen Leidens“ nicht als medizinische Aufgabe angesehen, weil es kein genuines Krankheitssymptom sei, sich nur schwer bemessen lasse und nicht gut von beliebigen anderen negativen Einstellungen und Emotionen in subjektiv belastenden Situationen unterschieden werden könne.
7 Auch ist bei existenziellem Leiden schwieriger einzuschätzen als bei somatischem, ob es sich nicht auch auf andere Weise behandeln lässt. Demgegenüber ist verschiedentlich eine Tendenz erkennbar, auch existenzielles Leiden von Patienten als ein Leiden anzuerkennen, das, soweit es einer ärztlichen Linderung zugänglich ist, verpflichtend sein sollte. Einige Autoren schlagen in diesem Zusammenhang eine Ausweitung der medizinischen Indikation auf das Lindern „existenziellen Leidens“ vor.
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Aus unserer Sicht lässt sich hierzu zum einen geltend machen, dass neben somatischen Symptomen wie physischen Schmerzen und Übelkeit auch psychische Leidensquellen wie schwere Angst- und Verzweiflungszustände als behandlungsbedürftig anzuerkennen sind, unabhängig davon, ob es sich um genuine medizinische Indikationen handelt oder um darüber hinausgehende soziale oder existenzielle Gründe.
9 Jedes Leiden wird letztlich subjektiv-existenziell erlebt, mögen auch die Ursachen mehr oder weniger somatisch bedingt sein. Nicht die Art und Herkunft eines Leidens, sondern seine Schwere und die Dringlichkeit der Linderung sollte für die Notwendigkeit einer Behandlung entscheidend sein. Dabei sollten die Behandelnden zur Leidenslinderung, ggf. einschließlich einer Begleitsedierung, auch dann verpflichtet sein, wenn sie die Gründe für den anlassgebenden Behandlungsverzicht ablehnen.
Zum anderen ist zu bedenken, dass der Wert der Freiheit, die Umstände des eigenen Sterbens bestimmen zu können, nicht vom Vorliegen eines somatisch oder psychisch bedingten Leidenszustands und somit einer medizinischen Indikation im engeren Sinne abhängt, auch wenn dies die faktisch häufigsten Randbedingungen hierfür sind. Nicht nur hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf Selbstbestimmung im Sterben ausdrücklich nicht auf bestimmte Krankheitszustände, Leidensformen oder Beweggründe beschränkt, sondern auch ethisch ist diese Interpretation zwingend, wenn man Selbstbestimmung und persönliche Wertungshoheit ernst nimmt. Da nur Ärzte eine Sedierung durchführen dürfen, sind sie zu Recht die Adressaten eines entsprechenden Wunsches und haben Grund, diesen so weit wie möglich zu respektieren, solange dem keine gewichtigeren Gründe entgegenstehen.
Kein solcher Gegengrund wäre die Überzeugung der behandelnden Ärzte, dass Patienten in der gegebenen Situation nicht sediert werden sollten, damit ihre Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und Kommunikation aufrechterhalten bleiben. Uns erscheint es ethisch wünschenswert und angemessen, dass Ärzte (und nicht nur sie) die Bewertung des Nutzens und der Nebenwirkungen von Begleitsedierungen und der daraus folgenden Umstände ihres Sterbens wesentlich ihren Patienten überlassen und sie ihrem Willen entsprechend behandeln – jedenfalls solange dies realistisch und zumutbar ist. Dafür bedarf es keiner medizinischen Indikation nach traditionellem Verständnis im Sinne eines Fachkonsenses über Interventionen bei Patienten mit entsprechenden Befunden, sondern lediglich eines glaubhaft und selbstbestimmt geäußerten Bedürfnisses des Patienten. Diese Sicht liegt gerade in der Palliativmedizin nahe, die sich als ein umfassender, an den individuellen Bedürfnissen und Präferenzen der Patienten ausgerichteter Ansatz versteht, der nicht nur der Linderung von somatischen und psychischen Symptomen, sondern als
Spiritual Care ausdrücklich auch von sozialen, existenziellen und spirituellen Problemen dienen soll (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin
2020, S. 13; Gratz und Roser
2019).
Im vorliegenden Beispiel gibt es demnach gute ethische Gründe dafür, dem Wunsch nach einer Sedierung zu entsprechen. Die ärztlicherseits vorgebrachten Vorbehalte in Bezug auf die bestehende medizinische Indikation für eine Operation und die fehlende medizinische Indikation für die Linderung existenziellen Leidens reichen nicht aus, um die Verweigerung einer Begleitsedierung zu rechtfertigen. Nicht nur die Ansicht, lieber sterben zu wollen, als den Weg der Operation zu gehen, sondern auch der Wunsch, lieber das Bewusstsein und die Fähigkeit zur Kommunikation zu verlieren, als das eigene Siechtum weiter mitzuerleben, sind legitime Bestimmungen der Art und Umstände des eigenen Sterbens, die einen entsprechenden Behandlungsauftrag an den Arzt begründen – unabhängig von Fragen der medizinischen Indikation.
Ein weiterer Grund, den Ärzte dafür haben können, eine Sedierung in Fällen wie diesem abzulehnen, besteht darin, dass die erbetene Sedierung hier mit dem Verzicht auf eine künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr einhergeht. Diese spezielle Thematik klammern wir zunächst aus, diskutieren sie aber weiter unten.
Ärztliche Mitverantwortung für Sterbeentscheidung?
In manchen Fällen stellt sich zusätzlich die Frage einer etwaigen ärztlichen Mitverantwortung an einer Sterbeentscheidung. Angenommen, der oben skizzierte Fall (2) sei folgendermaßen abgewandelt:
Auch wenn es (wie oben erörtert) klar ist, dass eine korrekt dosierte Begleitsedierung als solche den Tod des Patienten nicht beschleunigt, ist ihre Zusicherung in diesem Fall doch ein unabdingbarer Ermöglichungsfaktor für den patientenseitig gewollten Behandlungsverzicht. Zudem wird, wie im vorigen Fall, zugleich mit der Sedierung der Verzicht auf künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr gewünscht, die ihrerseits voraussichtlich kausal für den Eintritt des Todes (durch eine Niereninsuffizienz) sein würde – ein Aspekt, den wir erst später diskutieren werden.
Rechtlich wie ethisch kann für Fall (3) einerseits argumentiert werden, die Verwehrung der Sedierung konterkariere das Selbstbestimmungsrecht von Patienten. Andererseits könnte man einwenden, Ärzte dürften nicht gegen ihr eigenes Gewissen verpflichtet werden, die Umsetzung von Todeswünschen dadurch zu unterstützen, dass sie deren Begleitumstände wunschgemäß möglichst „komfortabel“ gestalten. Diese Position hätte eine gewisse Analogie zur Suizidhilfe-Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, das Ärzte von einer entsprechenden Hilfe-Verpflichtung freispricht. Wir werden Fragen der ärztlichen Mitverantwortung weiter unten in einem eigenen Abschnitt erörtern.