Auf Grundlage der hier vorgestellten Daten aus der Vollerhebung unter Hochschulen
mit primärqualifizierendem Studienangebot in der Pflege kann die frühe Einführungsphase der hochschulischen Ausbildung nach Pflegeberufegesetz nachvollzogen werden. Besonders die Entwicklung der Studierendenzahl muss aber auch langfristig unter Berücksichtigung von Attraktivitätsmerkmalen, wie beispielsweise einer kontinuierlichen Finanzierung, in den Blick genommen werden. Dies wird auch durch die im Koalitionsvertrag angekündigte Maßnahme untermauert, „[d]ie akademische Pflegeausbildung [zu] stärken [und d]ort, wo Pflegefachkräfte in Ausbildung oder Studium bisher keine Ausbildungsvergütung erhalten, […] Regelungslücken [zu schließen].“ (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP
2021). Eine systematische Dauerbeobachtung des gesamten Ausbildungsgeschehens in der Pflege geschieht im Rahmen des BIBB-Pflegepanels
. Hierfür finden ab 2022 jährliche und auf Dauer angelegte Längsschnitterhebungen unter Hochschulen, Pflegeschulen und Ausbildungseinrichtungen statt. Das BIBB kommt damit seiner gesetzlichen Aufgabe der Einführung eines Monitorings zur Umsetzung der beruflichen und hochschulischen Ausbildung nach (§ 60 Absatz 6 Pflegeberufe-Ausbildungs- und Prüfungsverordnung).
Hinsichtlich der akademischen Pflegeausbildung in Deutschland ist zu konstatieren, dass Nachholbedarf besteht. Die Akademisierungsquote
liegt mit weniger als 1 % unter Betrachtung der primärqualifizierenden Pflegestudiengänge
(Stand 2021) noch weit hinter den vom Wissenschaftsrat empfohlenen 10 bis 20 % (Wissenschaftsrat
2012). Das hier vorgestellte Rapid Review zeigt, dass empirische Belege dafür vorliegen, dass ein höheres Bildungsniveau der Pflegenden mit einem besseren Patienten-Outcome verbunden ist (Aiken et al.
2012; Aiken et al.
2014; Aiken et al.
2018; Audet et al.
2017; Blegen et al.
2013; Bourgon Labelle et al.
2019; Cho et al.
2015; Cho et al.
2018; Coto et al.
2020; Harrison et al.
2019; Haskins und Pierson
2016; Kutney-Lee und Aiken
2013; Lasater et al.
2021; O’Brien et al.
2018; Porat-Dahlerbruch et al.
2022; Sellers et al.
2014; Wieczorek-Wójcik et al.
2022; Yakusheva et al.
2014) Doch angenommen, die Akademisierungsquote steigt stetig und in Deutschland stünden 20 % akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen zur Verfügung, wo wäre ein Einsatz denkbar? Wenn ein Gesundheitssystem etabliert würde, in dem der Mensch im Mittelpunkt stünde, vernetzte Versorgung an regionalen Bedürfnissen orientiert wäre und die Gesundheitsfachberufe als multiprofessionelles Team an der Erreichung der Ziele ihrer Patienten arbeit[et]en (Behrend et al.
2020), übernähmen Pflegende auf allen Qualifikationsniveaus verantwortungsvolle Aufgaben. Personen mit Koordinations- und Lotsenfunktion sollten dabei die Angebote der unterschiedlichen Leistungserbringenden vernetzen und für die zu versorgenden Personen sinnvoll aufeinander abstimmen (Klapper
2021). Dabei könnte auf jeder Station eine berufserfahrene Pflegefachperson mit Bachelor- oder Masterqualifikation als pflegefachliche Leitung eingesetzt werden. Dies eröffnet zugleich die Perspektive, versorgungsorientierte Karrieremöglichkeiten als fachliche Leitung mit einer Abbildung in den Tarifsystemen und einer Refinanzierung durch den Kostenträger zu etablieren (Robert Bosch Stiftung
2018). In Einrichtungen der ambulanten und langzeitstationären Versorgung könnten Pflegende mit akademischem Abschluss Aufgaben im Bereich der erweiterten Heilkunde übernehmen. Sie trügen dann vermehrt dazu bei, dass zu versorgende Personen stabiler im häuslichen Umfeld verblieben, wodurch unnötige Kosten vermieden werden könnten (Klapper
2021). Beim Einsatz von akademisch ausgebildetem Pflegefachpersonal
in der direkten Pflege stellt sich die Frage, was dieses von beruflich ausgebildeten Pflegenden unterscheidet (Marschon
2015). Im Idealfall sind die Anforderungen an die Pflege aufgrund der Ausprägung der Komplexität einer Pflegesituation und das benötigte Pflegefachpersonal bestmöglich aufeinander abgestimmt (Pitkäaho et al.
2015). Deshalb sollten berufserfahrende akademisch ausgebildete Pflegende sich insbesondere entsprechend ihrem Qualifikationsniveau in (hoch-)komplexen Pflegesituationen einbringen (Huber et al.
2020; Mächler
2014). Außerhalb der direkten Pflege sind Einsatzfelder akademisierter Pflegefachpersonen unter anderem im Case- und Care-Management oder im Deeskalationstraining innerhalb von Teams zu verorten (Krautz
2017a). Dies ist besonders wichtig, da nicht nur der demographische und der epidemiologische Wandel, die in Kombination eine Zunahme von chronisch kranken und multimorbiden alten Menschen zur Folge haben, sondern auch die Diversität der Gesellschaft zu einer stetig anwachsenden Komplexität der pflegerischen Versorgung führen wird (Robert Koch-Institut
2015). Weitere Einsatzmöglichkeiten sind begleitende therapeutische Maßnahmen, welche die Pflegenden eigenständig ohne Reglementierung ärztlichen Vorbehalts durchführen können und den Handlungsspielraum und die Selbstständigkeit erweitern (Reinhardt-Meinzer
2015). Dadurch könnten insbesondere bestehende Versorgungslücken geschlossen werden. Ein zusätzlicher Tätigkeitsbereich spiegelt sich in der Auseinandersetzung mit pflegewissenschaftlichen Forschungslücken wieder. In der Pflegepraxis kommt es immer wieder zu Situationen, die ohne evidenzbasiertes Hintergrundwissen nicht zum Nutzen für Patientinnen und Patienten lösbar sind. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass Entscheidungen getroffen und darüber hinaus Maßnahmen gesetzt werden, ohne im Vorhinein die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse ermittelt zu haben (Reinhardt-Meinzer
2015). Ein weiterer wichtiger Einsatzbereich für Absolventinnen und Absolventen pflegewissenschaftlicher Studiengänge liegt im Wissenstransfer
. Hier geht es darum, komplexe evidenzbasierte Erkenntnisse in die Praxis zu implementieren, um die Pflegepraxis so zu verbessern, dass zu pflegende Personen davon profitieren (Darmann-Finck und Reuschenbach
2018). Pflegende mit akademischem Abschluss finden klassischerweise Beschäftigung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, beispielsweise in einer Führungsposition als Stations- oder Einrichtungsleitung oder im Gesundheits- oder Krankenhausmanagement (Claaßen et al.
2021). Eine weitere Zukunftsperspektive ist eine freiberufliche Berufsausübung, bei der unter anderem Aufgaben wie die Diagnosestellung oder die Prävention von Krankheiten in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten in den Tätigkeitsbereich fallen. Weiterhin sind Einsatzmöglichkeiten in der Pflegeberatung und -begutachtung bei Kranken- und Pflegekassen, und auch bei Gesundheitsämtern, Vereinen und Verbände gegeben. Zudem besteht die Option, eine wissenschaftliche Karriere zu verfolgen, indem ein auf den Bachelorabschluss aufbauendes Masterstudium aufgenommen wird. Hierfür gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Spezialisierungsmöglichkeiten, z B. im Bereich Pflegemanagement, Pflegeforschung oder Advanced Nursing Practice (ANP). Absolventinnen und Absolventen eines Studiums Pflegemanagement sind darauf vorbereitet, führende Positionen in einer pflegerischen Einrichtung zu übernehmen, etwa als Pflegedienst- oder Stationsleitung. Nach einem Studium in der Pflegewissenschaft besteht die Aussicht, eine Position in Lehr- und Forschungseinrichtungen an Fachhochschulen oder Universitäten zu erhalten. Advanced Nursing Practitioners sind für eine berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit verantwortlich und dazu befugt, ethische Entscheidungen zu treffen, körperliche Untersuchungen durchzuführen, Diagnostiken anzuordnen oder eine führende Rolle im Clinical Leadership zu übernehmen (Stephanow
2019,
2020; Taufer et al.
2018). Bezüglich der Fragestellung, ob 20 % Akademisierung ausreichen, um eine professionelle Vertretung der eigenen Berufsgruppe im Versorgungs-, Verwaltungs-, und Politikkontext (Linseisen
2017) erfolgreich durch einen Mix an beruflich und akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen sicherzustellen, besteht weiterer Forschungsbedarf.