Chronische Erkrankung MS – ein Kontinuum

Das Konzept einer zweiphasigen Multiplen Sklerose (MS) mit zunächst schubförmig remittierendem und dann sekundär progredientem Verlauf wird inzwischen komplett in Frage gestellt. Zu viele Hinweise belegen, dass kontinuierlich sowohl inflammatorische als auch neurodegenerative Prozesse ablaufen, die sich allerdings in ihrem Charakter verändern. Die Zulassung von ersten Medikamenten zur Therapie der sekundär progredienten MS und der primär progredienten MS haben ein Dilemma zutage gefördert: Wann genau beginnt eigentlich dieser Progress? Die traditionelle Definition des Progresses als einer Akkumulation von Behinderung unabhängig von Schüben, bestimmt anhand des EDSS (Expanded Disability Status Scale), greift zu kurz, betonte Giancarlo Comi von der Universität in Mailand anlässlich eines gemeinsamen Symposiums von European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) und European Academy of Neurology (EAN) in Stockholm. Viele andere Komponenten, die Behinderung ausmachen, wie beispielsweise Fatigue, Sehstörungen, kognitive Beeinträchtigungen oder Blasensymptome, aber auch subtilere Beeinträchtigungen werden dadurch nicht erfasst. Dabei sind die Verläufe der Patienten sehr unterschiedlich und es sind dringend Parameter notwendig, um den Übergang in eine stärker progrediente Form der Erkrankung zu definieren. Andererseits warnte Comi davor, eine Vielzahl von subjektiven, schlecht objektivierbaren Werten zu erheben, da die Fehleranfälligkeit damit steigt. Wichtig sind Marker, die objektivierbar sind und ein pathophysiologisches Korrelat haben. Biomarker-Bestimmungen werden besser Als Maß für den axonalen Schaden wurde die Bestimmung der Leichtketten-Neurofilamente (NfL) im Liquor etabliert. Lange waren die Messmethoden nicht sensitiv genug, um die Messung auch weniger invasiv im Serum vorzunehmen. Das hat sich laut Ludwig Kappos, Universität Basel, mit der dritten Generation der Messgeräte (SIMOA, engl. für Single Molecule Array) inzwischen geändert. Diese Messmethode ist sensitiv genug, NfL auch im Serum zu messen und dabei eine quantitative Korrelation mit den im Liquor bestimmten Werten zu erreichen. Das macht die Anwendung in Langzeitstudien einfacher. Der NfL-Wert korreliert gut mit T2- und Gadolinium-aufnehmenden (Gd+) Herden in der Magnetresonanztomographie (MRT), aber auch mit dem EDSS und steigt von gesunden Kontrollen über Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom oder schubförmiger MS hin zu progredienten Erkrankungen an. Eine auf dem ECTRIMS-Kongress 2019 vorgestellte retrospektive Fall-Kontroll-Studie mit Blutproben von Soldaten belegt, dass erhöhte Serum-NfL-Spiegel bereits sechs Jahre vor den ersten Symptomen einer MS nachweisbar sind [1] „Es gibt einen kontinuierlichen progredienten Teil der Erkrankung von Anfang an“, ist Kappos überzeugt. „Die bisherige Dichotomie der eher von Inflammation geprägten schubförmig-remittierenden und einer später einsetzenden, durch Neurodegeneration geprägten progredienten Form müssen wir verwerfen!“ Einsichten im MRT Wesentliche Unterstützung erhält diese Forderung durch moderne MRT-Techniken. Die bisherigen Standards wie neue und sich vergrößernde T2-Herde oder Gd+-Herde im T1-gewichteten MRT haben nur einen Teil der ablaufenden pathophysiologischen Prozesse sichtbar gemacht. Neuere Methoden können der Neuroinflammation wie -degeneration besser auf die Spur kommen und unterstützten die dynamische Natur der MS, in der beide Prozesse parallel und im Zusammenspiel ablaufen, wie Maria A Rocca, Mailand erklärte. Vielversprechend zum Nachweis andauernder neuroinflammativer Prozesse ist beispielsweise die Analyse chronisch aktiver Herde, die aufgrund einer randständigen Eiseneinlagerung mit speziellen Verfahren sichtbar gemacht werden können. Weitere zukünftig an Bedeutung gewinnende Parameter zur Erfassung der Neuroinflammation sind die Akkumulation kortikale Herde, die im Krankheitsverlauf eine immer wichtigere Rolle spielen, und die subpiale Demyelinisierung, die bei progredienter MS besonders ausgeprägt ist. Zur Quantifizierung der Neurodegeneration wird laut Rocca zukünftig vor allem die Atrophie der grauen Hirnsubstanz herangezogen werden. Sie ist für den Progress relevanter als die Hirnatrophie insgesamt oder die Atrophie der weißen Substanz. Die Atrophie im Rückenmark spielt wahrscheinlich früh im Krankheitsverlauf eine wichtige Rolle, tritt dann aber hinter der Atrophie der grauen Substanz in der Bedeutung für die Pathologie zurück. Rocca betonte, im Krankheitsverlauf der MS gebe es viele dynamische und sich gegenseitig beeinflussende Mechanismen, die neue, integrierte pathophysiologische Modelle der ZNS-Inflammation und –Degeneration notwendig machen. Empfehlung der Redaktion Highlights vom ECTRIMS-Kongress 2019 Das European Committee for Treatment and research in multiple sclerosis (ECTRIMS) traf sich zu seinem Kongress 2019 in Stockholm. Diskutiert wurden u.a. B-Zellen als neue Therapieoption, der Nutzen der Stammzelltransplantation oder was beim Impfschutz von MS-Patienten zu beachten ist. basierend auf: 35th Congress of the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), 11-13 September 2019, Stockholm; Session: EAN Session: Emerging concepts of relapsing and progressive MS Diese Berichterstattung wurde durch finanzielle Unterstützung des Unternehmens Roche Pharma AG ermöglicht. Das Unternehmen hatte keinen Einfluss auf die Inhalte der Berichterstattung.

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