Long-COVID und Post-COVID: Das Problem mit der Leitlinie

Viele Menschen mit Long- oder Post-COVID hoffen auf eine bessere Versorgung. Helfen sollen Vernetzung und eine Leitlinie. Mit letzterer könnte es schwierig werden. Die Pandemie ist vorbei, aber Corona bleibt – und damit Long- und Post-COVID. Für die Versorgung betroffener Menschen braucht es eine vernetzte Versorgung. Am besten primärärztlich gesteuert, mit gebietsärztlicher Expertise und Einbezug der Reha und entlang von Behandlungspfaden, die durch die Fächer bekannt sind. Vielerorts ist das aber mehr frommer Wunsch als Realität, wie beim Hauptstadtkongress am Freitag (16. Juni) in Berlin deutlich wurde. Deutlich wurde auch: Die Erstellung und Abstimmung von Leitlinien-Empfehlungen mit einem Konsens über Fachgrenzen dürften absehbar nicht leichter werden. „Mit Post-COVID entstand ein riesiges Durcheinander“, sagte Dr. Christian Gogoll vom Lungen-MVZ Weißensee mit Blick auf die initial fehlende Erfahrung und bis heute schwierige Evidenzlage. „Die Betroffenen kamen intensiv informiert, weil sie Google, Facebook oder Twitter haben. Die Ärzte aber hatten nichts. Das ist ein echtes Problem.“ Es brauche eine S2k-Leitlinie, um den wissenschaftlichen Konsens aller Beteiligten abzubilden. Für eine S3-Klassifikation reiche die Evidenz nicht, „wir wissen nichts über längere Verläufe.“ Pathophysiologie nicht hinreichend verstanden Seit Sommer 2022 gibt es eine S1-Leitlinie Long/Post-COVID (AWMF-Nr. 020-027), zuletzt war sie Anfang des Jahres aktualisiert worden. Neben der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP) sind 29 weitere Gesellschaften oder Gruppierungen beteiligt, darunter auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM). Ende August läuft die aktuelle Version 2.0. aus. Derzeit wird die Leitlinie aktualisiert und soll bestenfalls weiterentwickelt werden. Selbst zu möglichen Therapieoptionen seien aber noch immer kaum valide Aussagen oder gar Empfehlungen möglich, „solange wir die Pathophysiologie nicht verstanden haben“, sagte Pneumologe Gogoll. „Wir können nicht noch drei Jahre Grundlagenforschung machen“, sagte indes Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz an der Charité. „Wir müssen Therapiestudien machen.“ Wie viel Druck gibt es für eine Leitlinie? Die Internistin berichtete aus dem Vereinigten Königreich, wo die Statistikbehörde die Long-/Post-COVID-Prävalenz mit 2,9 Prozent angibt. Auf Deutschland übertragen wären das rund 2,5 Millionen Menschen. Die „gute Nachricht“ laut Scheibenbogen: „Dort hat Long-COVID ein Plateau erreicht, die Tendenz ist sogar leicht rückläufig.“ Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach will 100 Millionen Euro in die Erforschung investieren. Auch die G7-Staaten wollen die Forschung voranbringen. Und bis Ende dieses Jahres soll der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Richtlinie zur Versorgung dieser Patientinnen und Patienten erarbeiten. Fraglich ist aber, ob die nötigen Leitlinien-Empfehlungen zustande kommen. „Wie viel Druck ist noch im System, dass es eine interdisziplinäre S2k-Leilinie gibt?“, fragte Internist Gogoll. Bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sei im Moment die Wahrnehmung: Die krasse Menge an Post-COVID-Patienten gibt es nicht. „Wenn Corona nur ein Schnupfen geworden ist, dann ist der Druck raus.“ Aussagekraft von Red Flags sinkt In der Leitlinie „gibt es eine Leitlinie in der Leitlinie“, sagte er mit Anspielung auf die Haltung der DEGAM. „Bei jeder Leitlinie hat immer jemand Partikularinteressen, mit denen er andere ausbremst.“ Eine rein hausärztliche Leitlinie komme aber nicht in Frage, weil es die Gebietsärzte brauche. Die DEGAM tritt bekanntlich für eine strenge Evidenzsuche ein. Vor allem aber vertritt sie die hausärztliche Perspektive der Niedrigprävalenzsituation: Je seltener eine Erkrankung in der typischen Population einer hausärztlichen Praxis auftritt, desto geringer ist die Vortestwahrscheinlichkeit. Screenings etwa haben dann nur eine begrenzte Aussagekraft. Auch sinkt dann die Chance, dass Red Flags etwa einer Long-COVID-Symptomatik tatsächlich darauf deuten, vice versa steigt das Risiko, dass dahinter auch andere Ursachen stecken könnten. Niedrige Ereignisraten machen Studien „langsamer“ Die nächste Krux bei der Evidenzgenerierung: Sinkt die Prävalenz bei Long-/Post-COVID, gibt es weniger Patienten für Studien und eine geringere Ereignisrate, worunter die Aussagekraft von Vergleichen leidet. Allerdings wären die Daten und Vergleiche gerade unter Omikron, der seit eineinhalb Jahren dominierenden Variante notwendig. Denn viel Evidenz zu Long-/Post-COVID ist mit Patientenpopulationen entstanden, die mit der Alpha- oder Delta-Variante oder gar dem Wildtyp von SARS-CoV-2 infiziert waren. Einfacher wird es für die Leitliniengruppen denn absehbar nicht. Gogoll wollte die Hoffnung beim HSK aber nicht gänzlich aufgeben: „Wir beginnen jetzt mit der Neuformulierung, dann gucken wir mal.“ Empfehlung der Redaktion HSK 2023 Hauptstadtkongress 2023 14.-16. Juni 2023 | Berlin Der Wandel und die aktuellen Herausforderungen des Gesundheitssystems stehen auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit im Mittelpunkt. Dabei diskutieren Fachleute aus Medizin, Politik und Wirtschaft über Krisen, Chancen, und Lösungen. Im Kongressdossier finden Sie alle aktuellen Berichte. Quelle: Ärzte Zeitung

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