Im heutigen Verständnis systemischer Therapie wird davon ausgegangen, dass Theorie und Praxis gemeinsam miteinander „driften“: „Theoriebildung bewegt sich demnach nicht von oben nach unten, nicht von der ‚Höhe‘ der Theorie zu den ‚Niederungen‘ der Praxis, sondern von unten nach oben und zurück. Sie geht aus von der praktischen Erfahrung.“ (Hildenbrand und Welter-Enderlin
1998, S. 16). Leidvolles Erleben, als Gegenstand professionell-therapeutischen Handelns, wird prinzipiell nicht als ein
nur individuelles Geschehen betrachtet, sondern als ein im Kontext sozio-kultureller Praktiken emergierendes und historisch situiertes Phänomen. Praxis
informiert die Theorie und fordert sie immer wieder heraus, Theoriebildungen auszudifferenzieren, um therapeutisch adäquat antworten zu können. Klinische Theorien ihrerseits betrachtet man als sozio-kulturelle und historisch situierten Konstrukte, die wie „Sehhilfen“, Phänomene klinischer Praxis in charakteristischer Weise ko-konfigurieren. Der (auch sozialpolitische)
Kontext von Theoriebildungen ist eng verwoben mit dem
Kontext der Lebenswelten, in der therapeutische
Praxis ausgeübt wird.
Eine metatheoretische Rekonstruktion des „Driftens“ innerhalb der systemischen Familientherapie geht aus der Fachliteratur nicht kurzerhand hervor. Traditionellerweise finden sich hier Aufzählungen voneinander chronologisch ablösenden „Epochen“, die vor allem entlang prominenter Vertreter:innen und deren typischen Arbeitsweisen und spezifischen Interventionen bzw. typischer identitätsstiftender „Annahmen“ und „Haltungen“ charakterisiert werden (Schlippe und Schweitzer
2013; Seidler
2020). Eine explizite Unterscheidung der vielfältigen „Ansätze“ entlang der ihnen eignenden Theoriebildungen ist nicht üblich.
Erst ab den 1980er-Jahren mit der
konstruktivistischen Wende und dem Beginn der
Kybernetik zweiter Ordnung (
Kybernetik II), der „Geburtsstunde der
systemischen Familientherapie“ (Levold
2014a, S. 49), nimmt die Beschäftigung mit Theorien und Theoriebildung eklatant zu. Zentral wird hier die Rezeption der „Theorien des Beobachters, der Selbstreferentialität und der Selbstorganisation“ (Levold
2014b, S. 58), markiert als
Paradigmenwechsel und – nicht unbegründet in Frage gestellt – als
kopernikanische Wende in der Psychotherapie (Guntern
1980, Buchholz
1981). Die Aufmerksamkeit gilt vorrangig erkenntnistheoretischen Fragen und nur wenig deren Übersetzung in klinische Theorien. „Überblickt man die inzwischen recht beträchtliche Menge der Bücher, die alljährlich zum Thema ‚Systemische Therapie‘ erscheinen, so ist das Spektrum auf der einen Seite durch theoretische, meist epistemologische Werke begrenzt, deren Autoren in abgehobene Abstraktionen verliebt zu sein scheinen. (…) Der alltäglich unter dem Zwang, irgendetwas zu tun, stehende Praktiker kann im Allgemeinen aber nur wenig Handlungsanweisungen für den Umgang mit seinen Klienten, Patienten oder Kunden aus ihnen ableiten. Praktiker tendieren daher dazu, derartige Publikationen (nicht ganz zu Unrecht) als ‚Episto-Bubble‘ zu verunglimpfen.“ (Simon
1996, S. 7)
Entwicklungen, die zeitlich nachfolgen, werden auch weiterhin kaum entlang metatheoretischer Unterscheidungen, sondern als „Ansätze“ in den Binnendiskurs integriert (z. B. narrative, hypnosystemische, personzentrierte, integrative, synergetische etc.) (Levold und Wirsching
2014, S. 71 ff) bzw. mit der Zeit aus dem dominanten Diskurs desintegriert wie z. B. feministische Ansätze (Walters et al.
1988) oder die Beiträge der Meilener Schule, die sich gegen eine Ausblendung der affektiven Kommunikation und der theoriebasierten Thematisierung der therapeutischen Beziehung im Zuge der konstruktivistischen Wende positionieren (Welter-Enderlin und Hildenbrand
1996) und (erfolglos) für eine Integration der Wissensbestände der Bindungs- und Säuglingsforschung argumentieren (Welter-Enderlin
1998).
Ein metatheoretischer Diskurs auf einem common ground solider
klinischer Theoriebildung ist seither nicht zu identifizieren. Epistemologische Referenzkonzepte lassen sich „(…) nicht auf eine einheitliche theoretische Grundlage zurückführen (…), ihre konzeptuellen Wurzeln und ihre begrifflichen Traditionen [sind] so unterschiedlich, dass man allenfalls von einer
Familienähnlichkeit sensu Wittgenstein reden kann.“ (Levold und Wirsching
2014, S. 46). Widersprüche und Unvereinbarkeiten haben eine vielfältige Landschaft systemischer „Zugänge“ hervorgebracht, in denen unterschiedliche Konzepte ohne wechselseitige Bezugnahmen nebeneinanderstehen. Fehlende theoretische Auseinandersetzung und eine „eher lockere und beliebige Theorierezeption durch Praktiker“ (Levold und Wirsching
2014, S. 46) charakterisieren die Entwicklung. Systematische Vergleiche der Theoriebildungen wären – nicht zuletzt für die Ausbildung – wünschenswert, „zumal der systemische Diskurs der vergangenen Jahrzehnte eine kritische Auseinandersetzung der unterschiedlichen systemisch-konstruktivistischen Perspektiven nicht gerade gepflegt hat.“ (ebd.)
Konstruktivismus und die
Kybernetik II bleiben ab den 1980er-Jahren die zentralen – und unscharfen – Referenztheorien des systemtherapeutischen Ansatzes (Levold
2014c, S. 58). Kritische Betrachtungen der Einbettung systemischer Therapietheorie in den erkenntnistheoretischen Bezugsrahmen des (radikalen) Konstruktivismus bleiben nicht aus: Argumente sind u. a. eine einseitige Orientierung an kognitiven und die Vernachlässigung von affektiven Dimensionen im therapeutischen Prozess. (Levold
2014c, S. 59 f). Eine fundierte Reflexion bezüglich widersprüchlicher erkenntnistheoretischer Bezugsrahmen und deren Auswirkung auf die Konfiguration klinischer Phänomene finden sich allerdings kaum.
In der fachspezifischen Ausbildung lässt sich kritisch beobachten, dass die systemtherapeutische
Performanz oft nicht unter Bezugnahme auf die abstrakten und unscharf in
klinische Theorien übersetzten Theoriebestände der
Kybernetik II zu vermitteln ist. Vor allem wirkmächtiges affektives Geschehen („Erleben“), das für das Gelingen und Misslingen der Ko-Kreation
einzelfallspezifischer therapeutischer Allianz als entscheidender Wirkfaktor in der Psychotherapie bedeutungsvoll ist (Hubble et al.
2001), wird seit der
konstruktivistischen Wende nicht (mehr) theoriebasiert artikuliert und konzeptualisiert (Niel-Dolzer
2023).
Aus wissenschaftstheoretischer Position kann eine Perspektiveneinnahme auf Wissens
weiterentwicklung im Sinne einer
Ablöse, in der „alte Theorien“ als obsolet aufgegeben und durch „neue“
ersetzt werden, begründet in Frage gestellt werden. Klinische Theorien beziehen ihre Relevanz nicht aus gründungsgeschichtlichen Kontexten, sondern aus ihrer jeweiligen Nützlichkeit, therapeutische Situationen im jeweiligen
Einzelfall so strukturieren zu können, dass gemeinsam mit den Klient:innen verstanden werden kann, was (gerade
hier) „der Fall ist“. Sie sind wirkmächtige Faktoren, mit denen ein- und ausgegrenzt wird, was ein:e Therapeut:in überhaupt „sehen“
kann.
1
Zu einer metatheoretischen Aufarbeitung der historisch gewachsenen Wissensstände der systemischen Therapie kann die Bezugnahme auf den Wissenschaftsforscher Ludwik Fleck und seinem Konzept des Denkstils gewinnbringend beitragen.
„Das Gewesene ist (…) eigentlich nur dann gefährlich, wenn die Bindung mit ihm unbewusst oder unbekannt bleibt“2
Theorien – auch „revolutionär neue“ – sind nicht nur soziale, sondern auch historische Konstrukte: Ihnen eignet ein Vorwissen, das nicht unbedingt explizit mitgewusst, sondern im Gegenteil häufig implizit ungewusst bleibt und als „tacit knowledge“ die Theoriearchitektur prägt und begrenzt.
„[D]er lange unbeachtete Klassiker der Wissenschaftsforschung, Arzt und Biologe Ludwik Fleck“ (Levold
2014c, S. 60), stellt mit seinem Leitbegriff des
Denkstils eine attraktive und mit der systemtheoretisch zentralen
Theorie des Beobachters kompatible Semantik: Denkstile werden charakterisiert durch geteilte – und nicht notwendigerweise „bewusst gewusste“ – Vorannahmen eines
Denkkollektivs, die den Blick auf den Erkenntnisgegenstand so „disziplinieren“, dass ein spezifisches gerichtetes Wahrnehmen zur (Re)Konstruktion und (Re)Produktion spezifischer Phänomene führt. Beobachtungen versteht Fleck als „
denkstilgebundenes Gestaltsehen“ (Schäfer und Schnelle
2021, S. XXIV ff). Prägnant formuliert er im Jahr 1935: „‚Sehen‘ heißt: im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört.“ (
2019, S. 233). Denkstile fungieren als Seh
hilfen und forcieren Seh
zwänge3. Sie sind dabei immer auch Träger nicht bewusst gewusstem Vorwissens. Für die klinische Theoriebildung primär relevant ist die „stillschweigende“ Vorverständigung darüber,
wovon und
wie „Psyche“ unterschieden wird.
Betrachtet man „Ansätze“ der systemischen Therapie als Denkstile, also als Varianten denkstilgebundenen Gestaltsehens, lässt sich darauf fokussieren, in welcher typischen Weise sie Phänomene klinischer Praxis konfigurieren: Was wird für die Praktiker:in in der therapeutischen Situation innerhalb eines bestimmten Denkstils sichtbar („Sehhilfe“) und worauf verstellt er gleichzeitig den Blick („Sehzwang“).
Therapeutische Performanz besteht wesentlich darin, die Wahl des
im Einzelfall je geeigneten Denkstils verantwortungsvoll nach dem Kriterium klinischer Nützlichkeit (und nicht nach ideologischer Präferenz) zu treffen. Die lebensweltliche Vielfalt menschlicher (Leidens)Phänomene korrespondiert mit der Varianz der Denkstile. Deren Aneignung in der Ausbildung hat deshalb hohe Relevanz für den Professionalisierungsprozess. Eine metatheoretische Aufarbeitung systemtherapeutischer „Ansätze“ entlang ihrer
denkstilgebundenen Sehhilfen und
Sehzwänge kann gewinnbringend dazu beitragen, Theorie-Praxis-Bezüge explizit(er) zu machen und in der Ausbildung zu vermitteln und initiiert gleichzeitig Prozesse kritischen Weiterdenkens. Nicht Theoriewettbewerb oder -verdrängung sind hier die Motive:
Denkstilergänzung, Denkstilerweiterung und
Denkstilumwandlung (Schäfer und Schnelle
2021, S. XXIX) ermöglichen die Kopplung an dynamisch driftende Lebenswelten.
Anhand einer gegenwärtigen Entwicklung an der Lehranstalt für Systemische Familientherapie kann beispielhaft eine Denkstilumwandlung gezeigt werden: ein Wechsel im Vorverständnis der Theoriebildungen der Kybernetik II ermöglichen die klinische Konzeptualisierung psychischen Erlebens.
Die theoretische (Un)Zugänglichkeit psychischen Erlebens
Die erkenntnistheoretische Verankerung der systemtherapeutischen Theoriebildung im radikalen Konstruktivismus und in den soziologischen Theorien Niklas Luhmanns als Refenztheorien (Levold
2014d, S. 64) bestimmen den Phänomenbereich des Psychischen theoretisch begründet als
intrapsychische und (damit) als der direkten Zugänglichkeit entzogene
Blackbox. „Während Kommunikationen beobachtet werden können, entziehen sich aber psychische Systeme grundsätzlich einer empirischen Untersuchung – sie haben in der Systemtheorie den Status einer Blackbox.“ (Levold
2014d, S. 65). Des kritischen Potentials einer solchen Theorie
architektur ist man sich bewusst: „In der Psychotherapie und Beratung spielen körperliche und affektive Prozesse eine wesentliche Rolle (…) Die Nützlichkeit der luhmannschen Systemtheorie für eine klinische Epistemologie könnte erheblich gesteigert werden, wenn der Kommunikationsbegriff (…) um affektiv-körperliche Komponenten erweitert werden würde. Ob dies im Rahmen der vorgegebenen Theoriearchitektur machbar ist, muss sich erweisen.“ (Levold
2014d, S. 67).
Die Wirkmächtigkeit affektiver und emotionaler Aspekte im Veränderungsprozess hat in den letzten Jahren deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen: Beiträge zu einer emotionsbasierten systemischen Therapie reagieren im Kontext einer Theoriebildung, in der sich nicht „‚direkt‘, also ohne Umweg über Verhaltensänderung oder Kognition“ (Wagner und Russinger
2016, S. 17) emotionales Erleben adressieren lässt, durch Beisteuerung „emotionsfokussierter Interventionen“ (Wagner und Russinger
2016, S. 17). Eine kritische Anfrage an die Theorie
architektur findet sich hier allerdings noch nicht: psychisches Erleben wird weiterhin als
intrapsychisches Phänomen
vorausgesetzt.
Das Geist-Körper-Verhältnis als „unbewusst gewusstes“ Vorverständnis
In der abendländischen Wissenschaftstradition stehen einander zwei prinzipielle Annahmen über das Geist-Körper Verhältnis gegenüber:
In einem dualistischen („cartesianischen“) Verständnis wird von einer eindeutigen Geist-Körper-Trennung ausgegangen. Denkstilgebundene klinische Theorien können hier beträchtlich divergieren, konvergieren aber hinsichtlich der Annahme einer
im Körper eines
Individuums verorteten Psyche und der Konzeptualisierung psychischen Erlebens als
intrapsychisches Phänomen. Der cartesianische Denkrahmen hat sich als Grundgerüst der sogenannten ‚klassischen Kognitionswissenschaft‘, durchgesetzt (Fingerhut et al.
2017a, S. 9).
Eine Kritik am cartesianischen Denkrahmen greift im wissenschaftlichen Diskurs auf zwei bedeutende Denkrichtungen zurück, nämlich die Phänomenologie und den Pragmatismus (Fingerhut et al.
2017b, S. 10). Hier geht man von einer leiblichen Situiertheit des Bewusstseins („embodied mind“) aus, konzeptualisiert psychische Prozesse also nicht als im Körper eingeschlossen, sondern „einem unmittelbaren Erleben und Miterleben zugänglich.“ (Fuchs
2000, S. 16). Selbst- und Fremderleben versteht man als ineinander verschränkte Prozesse einer Wechselseitigkeit, die einander weder getrennt noch „innerlich“ gegenüberstehen.
Obwohl die Ursprünge der
Kybernetik II wesentlich durch Kritik am cartesianischen Wissenschaftsverständnis geprägt sind (Maturana
1985, S. 8; Dell,
1990; Bateson und Bateson
1993, S. 26; Retzer
2002, S. 22 ff;), überwinden ihre Theoriebildungen im Referenzrahmen einer konstruktivistischen Epistemologie
nicht ein dualistisch verfasstes Geist-Körper-Konzept:
Die
eindeutige Unterscheidung von
gelebtem, erlebtem und
erzähltem Leben (Retzer
2002, S. 21 ff) setzt sich als bindend für klinische Theoriebildung durch und argumentiert – denkstilgebunden stringent – dass eine
direkte Selbst/Fremd/Beobachtung des Phänomenbereichs
Erleben denkunmöglich ist. Klinische Theoriebildung bleibt deshalb auf den Bereich des
erzählten Lebens beschränkt: „Die Wissenschaft der seelischen Phänomene gibt also folgendes Rätsel auf: Im strengen Sinne des Wortes kann ich seelische Phänomene anderer nicht beobachten, meine eigenen aber auch nicht.“ (ebd. S. 23).
Das Beobachten
psychischen Erlebens erweist sich indes als ein die Therapiesituation entscheidend
gestaltendes Prozesselement: findet es ohne vermittelte Theoriebezüge statt, wird auf (nicht reflektierte) Alltagstheorien zurückgegriffen oder führt zu „eklektizistischem Patchwork“ im Fallverstehen und Orientierungslosigkeit im Wirkverstehen und damit nicht selten zu „Interventionismus“. Fehlende Subjekttheorien erweisen sich sowohl in der klinischen Praxis als auch in der Ausbildung als problematisch. Ahlers (
1994) weist bereits in den frühen 1990er-Jahren auf eine anstehende Weiterentwicklung hin: „Die Beobachtung und Beschreibung des Ineinandergreifens von Selbstkonstrukten und Beziehungsmustern auf klinischer Ebene wäre eine notwendige, wenn auch schwierige Herausforderung für die systemische Theorieentwicklung der nächsten Jahre.“ (ebd. S. 25)
Mit der
konstruktivistischen Wende trat die theoretische Beschäftigung mit Subjekttheorien zugunsten von (kognitiven) Kommunikationstheorien zurück: Auf der Grundlage des cartesianischen
Vorverständnisses der
Kybernetik II wird psychisches Erleben und die Genese von Subjektivität/Selbst im
Inneren eines „monadisch verfassten Individuums“ (Altmeyer und Thomä
2016, Vorwort) verortet. Im theoretischen Diskurs zeigt sich dies vor allem in der Marginalisierung der zuvor prominenten Beschäftigung mit Fragen zum
Selbst (Satir
1977) und zur „bezogenen Individuation“ (Stierlin
1994; Bleckwedel
2022, S. 131 ff). Die begründete Beschäftigung mit der sozialen Kontextualisierung menschlichen Erlebens führte zu einer „radikalen Auflösung des Selbstbegriffs“ (Ahlers
1994, S. 21) und war nicht unwesentlich vom Motiv geleitet, „eine Gegenposition zu anderen psychotherapeutischen Schulen“ einzunehmen. (Ahlers
1994, S. 21). Die theoretischen Versuche, „die Struktur des Selbst
im Subjekt aufzulösen“ (ebd., H.d.V), wie sie bei Gregory Bateson grundgelegt sind (Bateson
1994, S. 400 ff), führen zur Aufgabe des
Personenbegriffs und damit gleichzeitig zu Theoriebildungen, deren klinische Verwertbarkeit in Frage stehen (Ahlers
1994, S. 21): „Therapeutische Veränderung ist nicht leicht zu definieren, wenn der Personenbegriff aufgegeben wird, denn es ist schwierig, interaktionale und situationsbedingte Veränderung festzustellen, wenn diese außerhalb des Subjekts liegt.“ (ebd. S. 21).
Die Überwindung eines „cartesianischen
Sehzwangs“, der die Beobachtung auf eine solipsistische Genese des Subjekts festlegt, ist durch einen Wechsel zu einem phänomenologischen
Bezugsrahmen möglich
4, in dem von einer
relationalen und
intersubjektiven Verfasstheit des „Selbst“ ausgegangen wird. Eine theoretische Verständigung auf
Intersubjektivität erlaubt einen systemtheoretisch widerspruchsfreien „Personenbegriff“ ohne Rückgriff auf dekontextualisierende und desozialisierende Subjekttheorien.
Unter dem Begriff der
Intersubjektivität liegen in der Zwischenzeit überzeugende Forschungsergebnisse vor, die das „erlebte Leben“ begründet aus ihrer theoretisch konstruierten Blackbox „befreien“ und das wechselseitige Ineinandergreifen von „bio“, „psycho“ und „sozialen“ Aspekten in ihren dynamischen Rückkoppelungsprozessen für die klinische Theoriebildung erschließen (Fuchs
2022, S. 267). Bindungs- und Säuglingsforschung belegen psychisches Erleben eindrucksvoll als sich präreflexiv und rekursiv
zwischen zwei „Subjekten“ organisierendes Geschehen, beruhend auf wechselseitiger emotionaler
Erreichbarkeit und zwischenleiblicher Responsivität und damit ihre – auch klinische – Relevanz für die
direkte (!) Regulation von Gefühlen in der therapeutischen Begegnung (Beebe und Lachmann
2004).
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität: Eine Auflösung theoriebasierter Polarisierung von Subjekt und Sozialen Systemen
Die in einem cartesianischen Vorverständnis grundgelegte Dichotomisierung von „Subjekt“ und (sozialem) „Kontext“ ist also nicht alternativlos. Die klinisch-phänomenologischen Arbeiten von Thomas Fuchs stellen einen fundierten Referenzrahmen, in dem Subjekttheorien und Kommunikationstheorien einander nicht als inkommensurable Gegenpositionen ausschließen (Fuchs
2015; Fuchs und De Jaegher
2009). Intersubjektivität als Forschungsprogramm erlaubt eine „Ablösung vom Subjekt“ (Fuchs
2000, S. 230) als monadisch konzeptualisiertes Individuum, dessen
subjektives Erleben sich bereits auf der Ebene der
Wahrnehmung als ein
nicht solipsistischer5, sondern
relational und
intersubjektiv verfasster Prozess fundiert belegen lässt (Gallagher
2005; Gallagher und Zahavi
2021).
Von einer Denkstilumwandlung, bei der Theoriebildung nicht wie in der Kybernetik II in einem konstruktivistischen sondern einem phänomenologischen Referenzrahmen vollzogen wird, sind wertvolle Beiträge erwartbar:
Diagnostik
Mit der Abkehr vom Subjekt und unter der Annahme einer theoretischen Unzugänglichkeit psychischen Erlebens fehlen in der Kybernetik II begründet klinische Theorien zur subjektiven Seite „erlittener Pathogenese“, was nicht selten zu einem widersprüchlichen Amalgam von systemtheoretischer Prozessdiagnostik und kontextverleugnenden medizinisch-symptomorientierten Krankheitsbegriffen führt.
Eine am Konzept der Intersubjektivität orientierte Theoriebildung erlaubt systemtheoretisch fundierte Beiträge zu einer Diagnostik, die Symptome psychischen Leidens theoriegeleitet konzeptualisiert, indem sie sie aus den sozialen und relationalen Bezügen und Wechselwirkungen heraus artikuliert.
Therapeutische Allianz
Eine systemtheoretisch fundierte, konsistente
Beziehungstheorie, steht bislang aus (Bleckwedel
2022, S. 126). Ausgehend von einem relational und intersubjektiv verfassten psychischen Erleben, das sich zwischen Therapeut:in und Klient:in rekursiv organisiert, kann die therapeutische Beziehung als
Agens von Veränderung systemtheoretisch fundiert konzeptualisiert werden. Wirkfaktoren im therapeutischen Prozess können ergänzend zu den Interventionstheorien der
Kybernetik II (kognitive und verhaltensgerichtete Unterschiedsanregungen) als in der Konversation beobachtbare Dimensionen der Th-Kl-Beziehungsorganisation reflektiert, vermittelt und beforscht werden
6: als theoriegeleitete Beobachtung, Reflexion und Modifikation der therapeutischen Beziehung in ihren hilfreichen und störenden Einflussnahmen (Responsivitäten).
Gesellschaftliche Professionsverortung
Ein phänomenologisch-geisteswissenschaftlich verankerter Denkstil, der das
Subjekt – und sein psychisches Erleben –
in seiner sozialen Verfasstheit konzeptualisiert und
diagnostiziert, kann gegen eine Verobjektivierung und Medizinalisierung der
conditio humana argumentieren und damit auch zu einer Selbstaufklärung der Psychotherapieprofession hinsichtlich ihrer Mitgestaltung und Einflussnahme auf gesellschafts- und gesundheitspolitische Diskurse beitragen.
7
Denkstilumwandlung: Eine Kybernetik dritter Ordnung?
Die Einbettung systemischer Theoriebildungen in einen phänomenologischen Bezugsrahmen ermöglicht eine Perspektiveneinnahme, die ohne die im Konstruktivismus der Kybernetik II grundgelegten eindeutigen Unterscheidungen psychisch/physisch, Subjekt/soziales System operiert. Sie ist nicht dem „Sehzwang“ verpflichtet, psychisches Geschehen als Innerlichkeit zu konstruieren:
(Selbst)Erleben organisiert sich nicht
im Individuum, sondern
in Beziehung und in beobachtbarer zwischenleiblicher Responsivität. Die individuelle Erfahrung eines vom anderen abgegrenzten Selbst(erlebens) ist die
Folge von (zwischenleiblicher) Interaktion nicht deren
Voraussetzung.
8 Der „
soziale Andere“ und damit der
Begegnungs-Kontext ist
konstituierend für die Konzeptualisierung von „Subjektivität“: Der Mensch ist bis „in die unbewussten Tiefen seiner Psyche“ auf andere bezogen und intersubjektiv verfasst (Altmeyer und Thomä
2016b, S. 7).
Der Wechsel des konstruktivistischen Bezugsrahmen der
Kybernetik zweiter Ordnung lässt sich unter Bezugnahme auf Ludwik Fleck als
Denkstilumwandlung in Richtung einer – möglicherweise –
Kybernetik dritter Ordnung9 beschreiben. Ihre klinische Nützlichkeit erweist sich in ihrer „Sehhilfe“ auf psychisches Erleben als wirkmächtiger Aspekt therapeutischer Performanz.
Wo sich klinisch relevantes Geschehen nicht durch die Theorien einer Kybernetik II (als Dekonstruktion von Problemen) konfigurieren lässt, sind Theorien einer Kybernetik III als „Sehhilfe“ auf die (intersubjektive) Genese und Aufrechterhaltung pathologischer Phänomene erforderlich. Relevant ist dies vor allem in Prozessen, in denen drohender Selbstverlust bzw. Selbstaufrichtung zentraler Aspekt des (impliziten) Behandlungsauftrages sind. Das sind v. a. Kontexte traumatischen Erlebens und existentieller Verluste/Zerstörung, Arbeit mit emotional schwer erreichbaren Klient:innen, und auch mit Kindern und Jugendlichen, wo die Orientierung an (Selbst)Entwicklungstheorien prinzipiell unverzichtbar ist.
In der fachspezifischen Ausbildung erweist sich die klinische Nützlichkeit der
Kybernetik III darüber hinaus in ihrer theoriebasierten Konzeptualisierung von (Einzel- und Gruppen-)
Selbsterfahrung als integralem und unabweisbarem Beitrag zum Professionalisierungsprozess angehender Psychotherapeut:innen (Niel-Dolzer
2023).
Schulenübergreifende theoretische Anschlussstellen verdankt die
Kybernetik III der
intersubjektiven Wende innerhalb der Psychoanalyse, die beginnend in den 1980er-Jahren ihren cartesianischen Denkrahmen und mit ihm die Vorstellung von einem/r Therapeut:in als „detached observer“ verlassen hat (Altmeyer und Thomä
2016b; Lichtenberg et al.
2017). Von unmittelbarem Wert für einen metatheoretischen Diskurs innerhalb der systemischen Therapie erweisen sich die Entwicklungen innerhalb der Selbstpsychologie und deren Rezeption der
Intersubjective Systems Theories, verbunden mit den Namen Bernard Brandchaft (Brandchaft et al.
2015), Donna M. Orange (
2004), Robert D. Stolorow (Stolorow et al.
1996) und George E. Atwood (
2017).
Die Rezeption gegenwärtiger Beiträge der Phänomenologie zur Psychotherapieforschung eröffnen vielversprechende Anschlussstellen an die Theoriediskurse therapeutischer Verfahren innerhalb des humanistischen Clusters. Initiativen zu einer philosophischen Phänomenologie bzw. einer phänomenologisch fundierten Psychopathologie kontrastieren zu einer naturwissenschaftlich-psychiatrisch ausgerichteten Krankheitslehre und erweisen sich damit anschlussfähig an ein systemisches Therapieverständnis (Schmidsberger und Fuchs
2023).
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