Neue deutsche MS-Leitlinie: gut so oder lieber anders?

Die S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ [1] hat einige Kontroversen hervorgerufen. Im Rahmen des DGN-Kongresses 2021 wurden diese Aspekte in Pro-Kontra-Manier diskutiert. Pro – So und nicht anders Antworten auf die häufigsten kritischen Rückmeldungen von MS-Experten gab Prof. Dr. Bernhard Hemmer, Klinik für Neurologie am TUM-Klinikum rechts der Isar, der die Leitlinie koordiniert hat. Etwa sei gefragt worden, weshalb Betroffene und Vertretende der Patientenschaft teilgenommen, zahlreiche MS-Experten im Komitee aber gefehlt hätten. Die Leitlinie habe von einer repräsentativen Entwicklergruppe erstellt werden sollen, so Hemmer, multiprofessionell, interdisziplinär und frei von finanziellen Interessenkonflikten. Deshalb seien keine Experten ins Komitee aufgenommen worden, deren Interessenkonflikte durch die DGN als „sehr stark“ bewertet worden seien. Kritisiert worden sei auch, dass die Leitlinie Empfehlungen enthalte, für die es keine Evidenz gebe. Für viele Praxisempfehlungen gebe es aber einfach keine Studien, sagte Hemmer. Die Leitlinienempfehlungen könnten die Entscheidungsfindung erleichtern – basierend auf dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis. „Es geht nicht darum, Vorschriften zu machen, sondern eine Hilfestellung zu geben“, stellte er klar. Ein weiterer Aspekt, an dem sich einige Experten gestoßen hätten, sei der Wechsel vom Stufenschema der Immuntherapeutika zu einem Wirksamkeitsschema gewesen. Die Zulassungstexte der Medikamente hätten sich in den letzten Jahren jedoch drastisch verändert, schilderte Hemmer, sodass es inzwischen unmöglich sei, sie in ein Stufenschema zu integrieren. Man habe sich deshalb für eine Bewertung der Wirksamkeit entschieden. Hemmer zufolge lautet die Strategie der Leitlinie: So viel wie nötig, so wenig wie möglich – treat to target. Dazu gebe die Leitlinie praktische Empfehlungen für den Einstieg, für das engmaschige Monitoring, die Eskalation und als erste MS-Leitlinie erstmals auch für die Therapiebegrenzung. Kontra – „Probleme mit dem Grundtenor“ „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ hält Prof. Dr. Mathias Mäurer, Chefarzt der Klinik für Neurologie, Klinikum Würzburg Mitte, allerdings für problematisch. Er kritisierte den Grundtenor der Leitlinie und plädierte dafür, anstelle der Therapiesicherheit eine bestmögliche Krankheitskontrolle in den Vordergrund zu rücken. Patienten, die früh ein hochwirksames Medikament bekommen, hätten einen günstigeren Langzeitverlauf, dies belegten prospektive Daten. Behandelnde würden durch die starke Gewichtung der Sicherheit in der Leitlinie jedoch eher entmutigt, aktiv die beste Therapie anzustreben. Die Einteilung der Medikamente in Wirksamkeitskategorien könne Behandelnde und Betroffene dazu verleiten, die Kategorien sequenziell – und damit zeitraubend – abzuarbeiten. Auch entspreche die Kategorisierung teils nicht dem derzeitigen Zulassungsstatus, was aber für den Einsatz der Medikamente eine Rolle spiele. In der sehr klinischen Definition der hochaktiven MS in der Leitlinie fehle außerdem das MRT als wichtigster Surrogatmarker. Schlüssiger findet Mäurer die Einteilung der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) in milde/moderate MS gegenüber aktiver oder hochaktiver MS, unter Einbezug des MRT zu Beginn und im Verlauf der Immuntherapie. Living Guideline ist das Stichwort Dennoch – die Erarbeitung in den Fokusgruppen sei vorbildlich gewesen, Kritikpunkte würden berücksichtigt und eingearbeitet, so Mäurer. Die Leitlinie biete „die Leitplanken, zwischen denen wir uns bewegen.“ „Die Living Guideline ist das Stichwort“, so formulierte die Vorsitzende PD Dr. Anke Salmen das Fazit. Denn die Vortragenden waren sich einig: Die Leitlinie soll sich in Abstimmung mit Betroffenen und Kritikern stetig weiterentwickeln, und der konstruktive Diskurs trägt dazu bei. Empfehlung der Redaktion DGN 2021 – das Kongressdossier Eine vielversprechende kausale Therapieoption bei Parkinson, häufige Kritikpunkte zur neuen S2K-Leitlinie zur Multiplen Sklerose oder Empfehlungen zur Beratung von Patient*innen mit Bewegungsstörungen – zu diesen und weiteren Themen lesen Sie in unserem Dossier zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. basierend auf: Virtueller DGN-Kongress 2021 vom 3. bis 6. November 2021, www.dgnvirtualmeeting.org

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