Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2022 | Pharmakologie und Toxikologie | OriginalPaper | Buchkapitel

14. Sicht der Apothekerschaft: Gedanken zur Qualität der Arzneimittelversorgung in Deutschland

verfasst von : Prof. Dr. Martin Schulz, Dr. Nina Griese-Mammen, Dr. Uta Müller, Dr. rer. nat. André Said

Erschienen in: Arzneimittel-Kompass 2022

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
Die Qualität der Arzneimittelversorgung sollte daran bemessen werden, dass jede Patientin und jeder Patient das richtige (bestwirksame und bestverträgliche) Arzneimittel in der richtigen Dosierung und zur richtigen Zeit für die Behandlung seiner/ihrer Krankheit(en) bekommt. Dies zu unterstützen ist Anspruch und Angebot der Apothekerschaft. Denn: der Medikationsprozess ist komplex und umfasst bei einer ärztlichen Verschreibung die Anamnese, die Verordnung, die Patienteninformation, das Einlösen des Rezeptes in der Apotheke, die Abgabe mit Beratung und Information, die Einnahme/Anwendung des Arzneimittels, die Dokumentation und das Monitoring.
Ein Medikationsfehler ist ein Abweichen vom optimalen Medikationsprozess. Medikationsfehler können bei jedem Schritt des Medikationsprozesses auftreten und von allen Beteiligten, insbesondere im Bereich der Heilberufe und der Pflege, aber auch von den Patientinnen und Patienten selbst verursacht werden. Neben diesen patientenbezogenen sollten auch systematische Verbesserungspotenziale in den Blick genommen werden. Zudem gibt es Überschneidungen aus patientenbezogenen und systematischen Beeinträchtigungen der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS). Aktuelle Beispiele sind Dosierungsfehler beim Rabattvertrags-getriggerten Austausch von flüssigen Arzneimittelzubereitungen (Parrau et al. 2021), eine Verordnung von Methotrexat 1-0-0 für ein Kind (John 2022) oder relevante Diskrepanzen in der Dokumentation der Medikation zwischen Arztpraxis, Apotheke und Behandelten (Schumacher et al. 2021).
Weitere aktuelle Beispiele wie massive Lieferengpässe bei Paracetamol- oder Ibuprofen-Zubereitungen, potenzielle Versorgungsengpässe bei Tamoxifen (AMK 2022a), die nicht indizierte Bevorratung von Kaliumiodidtabletten (AMK 2022b) oder der geringe Gebrauch von oralen COVID-19-Arzneimitteln wie Nirmatrelvir in Kombination mit Ritonavir (Mikus et al. 2022) zeigen, dass das Versorgungssystem auch in Deutschland vulnerabel ist und immer wieder auf neue Herausforderungen reagieren muss.
Neben der beeinträchtigten AMTS sind die Translation von Evidenz in die Primärversorgung (Katzmann et al. 2022; Mahfoud et al. 2022) und mangelnde Einnahmetreue in der medikamentösen Therapie weitere große Herausforderungen (Laufs et al. 2011).
Untersuchungen aus dem europäischen Ausland zeigen, dass sechs bis 28 % der Erstverordnungs-Rezepte nicht (nie) in der Apotheke eingelöst werden (Aznar-Lou et al. 2017; Carbonell-Duacastella et al. 2022; Cheen et al. 2019). Untersuchungen aus Deutschland zu diesem Phänomen liegen nicht vor. Mit der Einführung des eRezeptes sollte dieses Problem in Deutschland nicht nur analysiert, sondern auch adressiert werden.
Die langfristige, regelmäßige und korrekte Einnahme von Arzneimitteln ist bei chronischen Krankheiten eine wesentliche Voraussetzung für den Therapieerfolg. Bei vielen Dauertherapien wurden aber nur Einnahme-Raten von circa 50 % ermittelt (Sabaté 2003). Die folgenden fünf Dimensionen beeinflussen die Medikamenten-Adhärenz: sozioökonomische, behandlungsbezogene und patientenbezogene Faktoren sowie der Gesundheitszustand und das Gesundheitssystem inklusive Faktoren der Versorgung.
Eine geringe Einnahmetreue ist pandemisch und mindert die Effektivität evidenzbasierter Therapien (Baumgartner et al. 2018; Choudhry et al. 2022; Laufs et al. 2011; Simon et al. 2021). Die Medikamenten-Adhärenz nachhaltig zu verbessern ist herausfordernd. Hier erscheint eine langfristig-kontinuierliche Betreuung von Patientinnen und Patienten (Medikationsmanagement) auf Basis einer Medikationsanalyse wie im Modellvorhaben nach § 63 SGB V Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen (ARMIN; Müller et al. 2018) oder in der ersten apothekenbasierten interdisziplinären randomisierten Studie in Deutschland PHARM-CHF (Schulz et al. 2019) als erfolgversprechender Handlungsansatz.
Drugs don’t work in patients who don’t take them (C. Everett Koop, früherer US Surgeon General).
Zahlreiche Untersuchungen zeigen zudem, dass mit viel Aufwand erarbeitete evidenzbasierte Leitlinien zu wenig Berücksichtigung in der Primärversorgung finden. Die Forderung nach einer konsequenten Evaluation der Inhalte sowie der Effekte von Leitlinien wurde im Übrigen bereits vor 25 Jahren erhoben (Gerlach 1997). Dieses Phänomen wird international auch als guideline inertia bezeichnet (Gradl et al. 2021; Mahfoud et al. 2022).
Drugs can’t work in patients who don’t receive them (M. Schulz).
Aufgrund der Ergebnisse der Evaluation durch die ARMIN sollten deren wirksame und sichere Interventionen bundesweit in die Regelversorgung eingeführt werden (Publikation in Arbeit). So sollte allen Patientinnen und Patienten mit Polymedikation, das bedeutet Menschen, die fünf und mehr systemisch wirkende Arzneimittel erhalten, eine Medikationsanalyse mit pharmazeutischer und medizinischer AMTS-Prüfung, gefolgt von einem interdisziplinären Medikationsmanagement angeboten werden.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
Literatur
Zurück zum Zitat Aznar-Lou I, Fernández A, Gil-Girbau M, Fajó-Pascual M, Moreno-Peral P, Peñarrubia-María MT, Serrano-Blanco A, Sánchez-Niubó A, March-Pujol MA, Jové AM, Rubio-Valera M (2017) Initial medication non-adherence: prevalence and predictive factors in a cohort of 1.6 million primary care patients. Br J Clin Pharmacol 83(6):1328–1340CrossRef Aznar-Lou I, Fernández A, Gil-Girbau M, Fajó-Pascual M, Moreno-Peral P, Peñarrubia-María MT, Serrano-Blanco A, Sánchez-Niubó A, March-Pujol MA, Jové AM, Rubio-Valera M (2017) Initial medication non-adherence: prevalence and predictive factors in a cohort of 1.6 million primary care patients. Br J Clin Pharmacol 83(6):1328–1340CrossRef
Zurück zum Zitat Baumgartner PC, Haynes RB, Hersberger KE, Arnet I (2018) A systematic review of medication adherence thresholds dependent of clinical outcomes. Front Pharmacol 9:1290CrossRef Baumgartner PC, Haynes RB, Hersberger KE, Arnet I (2018) A systematic review of medication adherence thresholds dependent of clinical outcomes. Front Pharmacol 9:1290CrossRef
Zurück zum Zitat Carbonell-Duacastella C, Rubio-Valera M, Marqués-Ercilla S, Peñarrubia-María MT, Gil-Girbau M, Garcia-Cardenas V, Pasarín MI, Parody-Rúa E, Aznar-Lou I (2022) Pediatric medication noninitiation in Spain. Pediatrics 149(1):e2020034371CrossRef Carbonell-Duacastella C, Rubio-Valera M, Marqués-Ercilla S, Peñarrubia-María MT, Gil-Girbau M, Garcia-Cardenas V, Pasarín MI, Parody-Rúa E, Aznar-Lou I (2022) Pediatric medication noninitiation in Spain. Pediatrics 149(1):e2020034371CrossRef
Zurück zum Zitat Cheen MHH, Tan YZ, Oh LF, Wee HL, Thumboo J (2019) Prevalence of and factors associated with primary medication non-adherence in chronic disease: A systematic review and meta-analysis. Int J Clin Pract 73(6):e13350CrossRef Cheen MHH, Tan YZ, Oh LF, Wee HL, Thumboo J (2019) Prevalence of and factors associated with primary medication non-adherence in chronic disease: A systematic review and meta-analysis. Int J Clin Pract 73(6):e13350CrossRef
Zurück zum Zitat Choudhry NK, Kronish IM, Vongpatanasin W, Ferdinand KC, Pavlik VN, Egan BM, Schoenthaler A, Houston Miller N, Hyman DJ (2022) Medication adherence and blood pressure control: a scientific statement from the American Heart Association. Hypertension 79:e1–e14CrossRef Choudhry NK, Kronish IM, Vongpatanasin W, Ferdinand KC, Pavlik VN, Egan BM, Schoenthaler A, Houston Miller N, Hyman DJ (2022) Medication adherence and blood pressure control: a scientific statement from the American Heart Association. Hypertension 79:e1–e14CrossRef
Zurück zum Zitat Gerlach FM (1997) Qualitätsförderung. Das Leid mit den Leitlinien. Dtsch Arztebl 94(22):A-1453 Gerlach FM (1997) Qualitätsförderung. Das Leid mit den Leitlinien. Dtsch Arztebl 94(22):A-1453
Zurück zum Zitat Gradl G, Werning J, Enners S, Kieble M, Schulz M (2021) Quality appraisal of ambulatory oral cephalosporin and fluoroquinolone use in the 16 German federal states from 2014–2019. Antibiotics 10(7):831CrossRef Gradl G, Werning J, Enners S, Kieble M, Schulz M (2021) Quality appraisal of ambulatory oral cephalosporin and fluoroquinolone use in the 16 German federal states from 2014–2019. Antibiotics 10(7):831CrossRef
Zurück zum Zitat John C (2022) MTX 1-0-0. (K)eine Lizenz zum Töten. Dtsch Apoth Ztg 162(8):672–675 John C (2022) MTX 1-0-0. (K)eine Lizenz zum Töten. Dtsch Apoth Ztg 162(8):672–675
Zurück zum Zitat Katzmann JL, Kieble M, Enners S, Böhm M, Mahfoud F, Laufs U, Schulz M (2022) Trends in ezetimibe prescriptions as monotherapy or fixed-dose combination in Germany 2012–2021. Front Cardiovasc Med 9:912785CrossRef Katzmann JL, Kieble M, Enners S, Böhm M, Mahfoud F, Laufs U, Schulz M (2022) Trends in ezetimibe prescriptions as monotherapy or fixed-dose combination in Germany 2012–2021. Front Cardiovasc Med 9:912785CrossRef
Zurück zum Zitat Laufs U, Böhm M, Kroemer HK, Schüssel K, Griese N, Schulz M (2011) Strategien zur Verbesserung der Einnahmetreue von Medikamenten. Dtsch Med Wochenschr 136(31–32):1616–1621CrossRef Laufs U, Böhm M, Kroemer HK, Schüssel K, Griese N, Schulz M (2011) Strategien zur Verbesserung der Einnahmetreue von Medikamenten. Dtsch Med Wochenschr 136(31–32):1616–1621CrossRef
Zurück zum Zitat Mikus G, Foerster KI, Terstegen T, Vogt C, Said A, Schulz M, Haefeli WE (2022) Oral drugs against COVID-19 – management of drug interactions with the use of nirmatrelvir/ritonavir. Dtsch Arztebl Int 119(15):263–269PubMedPubMedCentral Mikus G, Foerster KI, Terstegen T, Vogt C, Said A, Schulz M, Haefeli WE (2022) Oral drugs against COVID-19 – management of drug interactions with the use of nirmatrelvir/ritonavir. Dtsch Arztebl Int 119(15):263–269PubMedPubMedCentral
Zurück zum Zitat Müller U, Schulz M, Mätzler M (2018) Elektronisch unterstützte Kooperation ambulant tätiger Ärzte und Apotheker zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit. Die Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen (ARMIN). Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 61(9):1119–1128CrossRef Müller U, Schulz M, Mätzler M (2018) Elektronisch unterstützte Kooperation ambulant tätiger Ärzte und Apotheker zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit. Die Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen (ARMIN). Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 61(9):1119–1128CrossRef
Zurück zum Zitat Parrau N, Said A, Ganso M, Schulz M, Kayser C (2021) Dosierung flüssiger Zubereitungen zum Einnehmen – Potenzial für Medikationsfehler. Bull Arzneimittelsicherh 2:25–35 Parrau N, Said A, Ganso M, Schulz M, Kayser C (2021) Dosierung flüssiger Zubereitungen zum Einnehmen – Potenzial für Medikationsfehler. Bull Arzneimittelsicherh 2:25–35
Zurück zum Zitat Schulz M, Griese-Mammen N, Anker SD, Koehler F, Ihle P, Ruckes C, Schumacher PM, Trenk D, Böhm M, Laufs U (2019) Pharmacy-based interdisciplinary intervention for patients with chronic heart failure: results of the PHARM-CHF randomized controlled trial. Eur J Heart Fail 21(8):1012–1021CrossRef Schulz M, Griese-Mammen N, Anker SD, Koehler F, Ihle P, Ruckes C, Schumacher PM, Trenk D, Böhm M, Laufs U (2019) Pharmacy-based interdisciplinary intervention for patients with chronic heart failure: results of the PHARM-CHF randomized controlled trial. Eur J Heart Fail 21(8):1012–1021CrossRef
Zurück zum Zitat Schumacher PM, Griese-Mammen N, Schneider J, Laufs U, Schulz M (2021) Interdisciplinary physician-pharmacist medication review for outpatients with heart failure: a subanalysis of the PHARM-CHF randomized controlled trial. Front Pharmacol 12:712490CrossRef Schumacher PM, Griese-Mammen N, Schneider J, Laufs U, Schulz M (2021) Interdisciplinary physician-pharmacist medication review for outpatients with heart failure: a subanalysis of the PHARM-CHF randomized controlled trial. Front Pharmacol 12:712490CrossRef
Zurück zum Zitat Simon ST, Kini V, Levy AE, Ho PM (2021) Medication adherence in cardiovascular medicine. BMJ 374:n1493CrossRef Simon ST, Kini V, Levy AE, Ho PM (2021) Medication adherence in cardiovascular medicine. BMJ 374:n1493CrossRef
Metadaten
Titel
Sicht der Apothekerschaft: Gedanken zur Qualität der Arzneimittelversorgung in Deutschland
verfasst von
Prof. Dr. Martin Schulz
Dr. Nina Griese-Mammen
Dr. Uta Müller
Dr. rer. nat. André Said
Copyright-Jahr
2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66041-6_14