Primärer Schaden
Im Folgenden analysieren wir testimoniale Ungerechtigkeit unter ethischen Gesichtspunkten mit einem besonderen Fokus auf das Setting der Gesundheitsversorgung. Fricker analysiert die Herabwürdigung der Glaubwürdigkeit einer Person aufgrund einer negativen Stereotypisierung als moralisch und epistemisch problematisch. Es ist primär moralisch problematisch, da einer Person
qua ihrer zugeschriebenen sozialen Identität eine zentrale menschlichen Eigenschaft, nämlich die einer*s epistemische*n Agent*in, abgesprochen wird (Fricker
2007, S. 44). Dabei handelt es sich um einen intrinsischen moralischen Schaden, da eine Person durch den Ausschluss als epistemische*r Agent*in als Person abgewertet wird.
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Folgeschäden
Darüber hinaus können durch testimoniale Ungerechtigkeit unterschiedliche Folgeschäden entstehen. Erstens kann testimoniale Ungerechtigkeit negative Konsequenzen auf das Vertrauen betroffener Personen in ihre eigenen epistemischen Kompetenzen haben (Fricker
2007, S. 54). Dies ist besonders problematisch und ethisch relevant, da Menschen mit psychischer Erkrankung aufgrund ableistischer Normen im Umgang mit ihren eigenen kognitiven Fähigkeiten verunsichert sein können.
Zweitens kann testimoniale Ungerechtigkeit zu einem Vertrauensverlust in das medizinische System führen. Denn testimoniale Ungerechtigkeit kann mit hohen Latenzzeiten bis zur Diagnosestellung, zeitintensiven Ärzt*innenbesuchen, Fehldiagnosen und -behandlungen und dem „Trauma, nicht gesehen zu werden“ verbunden sein (Hedva
2020, S. 29). In der Folge können sich Menschen vom medizinischen Gesundheitssystem abwenden. Eine reduzierte Inanspruchnahme des Gesundheitssystems ist wiederum mit einem schlechteren Gesundheitszustand verbunden.
Als weitere Folge des Vertrauensverlustes können Menschen mit psychischer Erkrankung bestimmte Informationen absichtlich zurückhalten. Dotson (
2011) beschreibt, dass Menschen, die häufig erleben, dass ihre Berichte angezweifelt, ignoriert oder übergangen werden, ihre eigenen Aussagen an die erwartete negative soziale Reaktion der Zuhörer*innenschaft anpassen. Beim sogenannten
testimonial smothering zensiert eine Person vorsorglich selbst ihre Sprechinhalte, so dass diese nur noch Inhalte enthalten, für die die Zuhörer*innenschaft kommunikative Kompetenz zeigt. Wenn eine Person wiederholt die Erfahrung macht, dass das medizinische Personal nicht adäquat auf ihre kommunikativen Bemühungen eingeht und kein sicheres Umfeld zur Kommunikation ihrer Anliegen schafft, kann dies dazu führen, dass sie es unterlässt, somatische Symptome zu schildern:
Within the health care setting, this testimonial smothering can manifest as patients choosing not to disclose information about themselves, their symptoms, and their medical history, because they believe that the information will be either ignored or misinterpreted by their physician who they perceive to be negatively stereotyping them. (Puddifoot
2019, S. 77–78)
Drittens kann durch testimoniale Ungerechtigkeit ein epistemischer Folgeschaden verursacht werden, da an die zuhörende Person gerichtete Informationen nicht empfangen oder, im Falle vom
testimonial smothering, zurückgehalten werden (Fricker
2007, S. 43). In medizinischen Settings kann dieser Informationsverlust zu vermeidbaren medizinischen Behandlungsfehlern führen. Peña-Guzmán und Reynolds (
2019) subsumieren so entstandene medizinische Fehler unter der Kategorie „schematischer Fehler“, da sie durch die Anwendung eines verzerrten Netzwerks sozialer Bedeutung entstehen. Die Besonderheit besteht darin, dass alle relevanten Informationen zur Vermeidung medizinischer Fehler verfügbar wären, jedoch nicht angemessen interpretiert, umgesetzt oder kommunizierbar gemacht werden.
Hier könnte eingewendet werden, dass manche Stereotype angemessen sind, indem sie auf statistischen Verteilungen beruhen. Folglich könnte ihre Anwendung bei der Einschätzung von Symptomen bei medizinischen Entscheidungen unter limitierten zeitlichen Ressourcen epistemisch gerechtfertigt sein. Puddifoot (
2019) argumentiert demgegenüber, dass auch die Anwendung von statistisch korrekten Stereotypen zu epistemischen Fehlern führen kann. Grund ist, dass Stereotype zu einer Überbewertung oder einer Stereotyp kongruenten Wahrnehmung von Symptomen führen können. Dies kann den weiteren diagnostischen Prozess einengen, so dass nicht alle relevanten Differentialdiagnosen angemessene Aufmerksamkeit erfahren. Dies ist epistemisch kostspielig.
Alle Personen sind einem gewissen Risiko ausgesetzt, durch medizinische Fehler geschädigt zu werden. Jedoch führen schematische Fehler aufgrund von Ableismus für Personen mit psychischer Erkrankung zu einem disproportional hohen Risiko (Peña-Guzmán und Reynolds
2019). Folglich stellt testimoniale Ungerechtigkeit eine entscheidende Ursache für die schlechtere somatische Gesundheitsversorgung von Menschen mit psychischer Erkrankung dar.
Diskriminierung
Schließlich handelt es sich bei testimonialer Ungerechtigkeit um Diskriminierung. Wir verstehen Handlungen, Praktiken und Gesetze als diskriminierend, wenn sie 1. auf der zugeschriebenen sozialen Gruppe einer Person beruhen, 2. die Gruppenzuschreibung sozial salient ist, indem sie die Interaktionen in sozialen Kontexten situationsübergreifend strukturiert, und 3. wenn die Handlungen, Praktiken und Gesetze zu einem Nachteil, Schaden oder Unrecht der betroffenen Person führen (Lippert-Rasmussen
2018; Altman
2020).
5 Wir haben argumentiert, dass die Kenntnis über eine psychiatrische Diagnose im medizinischen Setting zur Gruppenzuschreibung der „psychisch erkrankten“ Nutzer*innen führt. Diese Kategorisierung strukturiert kontext-übergreifend medizinische Versorgungssettings und ist damit sozial salient. Darüber hinaus führt sie zu Nachteilen für Nutzer*innen im Sinne des primären Schadens sowie der verschiedenen Folgeschäden. Damit erfüllt testimoniale Ungerechtigkeit gegenüber Menschen mit psychischer Erkrankung
qua ableistischer Netzwerke sozialer Bedeutung im Setting der Gesundheitsversorgung die Kriterien von Diskriminierung. Puddifoot (
2018) argumentiert, dass testimoniale Ungerechtigkeit spezifisch als
epistemische Diskriminierung verstanden werden kann. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass Personen aufgrund einer sozial salienten zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit verwehrt wird, ihre vollen Kapazitäten als epistemische Agent*innen auszuüben. Dabei ist von besonderer Bedeutung, wie sich hier epistemische Diskriminierung in einen Kontext struktureller Diskriminierung einfügt. Menschen mit psychischer Erkrankung wird durch verschiedene strukturelle Barrieren der Zugang zur Gesundheitsversorgung erschwert (Mitchell et al.
2009; Rüsch und Berger
2019). Testimoniale Ungerechtigkeit kann zu einer Reproduktion der strukturellen Diskriminierung beitragen, wenn Personen aufgrund erlebter epistemischer Diskriminierung trotz eines bestehenden Bedarfs Behandlungsangeboten fernbleiben. Mit dem Unterzeichnen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat sich Deutschland zu einem aktiven Einsatz gegen Diskriminierung von Menschen mit psychischen Behinderungen verpflichtet (Bundesregierung
2017). Laut § 25 UN-BRK ist ein vollumfänglicher Zugang zur medizinischen Gesundheitsversorgung gleicher Qualität sicherzustellen. Darum schlagen wir zuletzt Strategien zur Verbesserung der medizinischen Praxis unter ethischen Gesichtspunkten vor.
Implikationen für die klinische Praxis
Zunächst weisen wir auf individueller Ebene auf die Wichtigkeit der Gestaltung einer tragfähigen Beziehung zwischen medizinischem Personal und Nutzer*innen hin, in der jede Person in ihrer Individualität wahrgenommen wird (Maio
2017). Eine Anerkennung aller Personen unabhängig von der zugeschrieben sozialen Gruppe oder vorliegenden Diagnosen ist Voraussetzung für die Erfüllung normativer Standards der ärztlichen Profession, wie sie zum Beispiel im Genfer Gelöbnis definiert werden (Weltärztebund
2017). Eine solche Anerkennung ist auch Teil des
Code of Ethics der
World Psychiatric Association (World Psychiatric Association
2020). Darum obliegt medizinisch Tätigen eine kritische Selbstreflexion. Hängen ihre professionelle Haltung, ihre Kommunikation oder klinische Urteile von der sozialen Identität von Nutzer*innen ab, ist eine Korrektur geboten. Eine solche kritische Haltung könnte der Tugend der
reflexive awareness entsprechen, die Fricker (
2007) zur Vermeidung testimonialer Ungerechtigkeit vorschlägt.
Dabei besteht eine nicht abschließend geklärte Frage darin, ob insbesondere implizite Stereotype hinreichend kontrolliert werden können. Ergebnisse aus der experimentellen Psychologie stützen jedoch die These, dass der Einfluss von implizitem Bias auf Urteilsbildungen kontrollierbar gemacht werden kann (Brownstein und Saul
2016). Zum Beispiel kann ärztliches Personal in Anti-Bias-Trainings Strategien lernen, um Nutzer*innen als Individuen, und nicht als Teil einer sozialen Gruppe wahrzunehmen (Chapman et al.
2013). So konnte durch ein Anti-Stigma-Training mit Medizin-Studierenden eine Reduktion negativer Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischer Erkrankung erzielt werden (Wechsler et al.
2020).
Da Netzwerke sozialer Bedeutung Teil sozialer Strukturen sind und da die Auswirkungen sozialer Praktiken nicht allein auf die Intentionen und Handlungen von Individuen zurückgeführt werden können, sind Interventionen allein auf individueller Ebene unzureichend (Anderson
2012; Haslanger
2020). Auf institutioneller Ebene berücksichtigt die Organisationsethik, dass Organisationen ein von den in ihren Strukturen handelnden Personen unabhängiges Eigenleben haben, in dem soziale Praktiken und die Organisationskultur eine wichtige Rolle spielen (Wallner
2015). Zum einen ist bekannt, dass der Einfluss von impliziten Bias auf medizinisches Personal unter Zeitmangel verstärkt ist, so dass eine Veränderung von Abläufen und die Verstärkung zeitlicher und personeller Ressourcen sinnvoll erscheinen (Croskerry
2002). Zum anderen kann eine Veränderung interner Praktiken die Organisationskultur positiv beeinflussen. Mitarbeitenden-Schulungen, diskriminierungssensible und anti-ableistische Ausbildung, Super- und Intervisionen oder ein niedrigschwelliges Beschwerde- und Fehlermanagement in Kliniken können zur Korrektur diskriminierender Praktiken beitragen (Campbell
2009). Bei der Planung von anti-ableistischer medizinischer Praxis sollten im Sinne der vollen Partizipation Menschen mit psychischer Erkrankung beteiligt sein (Iezzoni
2016). Dies kann dazu beitragen, negative Stereotype über Menschen mit psychischer Erkrankung abzubauen und eine Veränderung ableistischer Netzwerke sozialer Bedeutung bewirken.
Schließlich sollte berücksichtigt werden, dass verzerrte Netzwerke sozialer Bedeutung resistent gegenüber Veränderung sind, solange sich tatsächliche gesellschaftliche Verhältnisse nicht verändern. Dies könnte erklären, warum trotz verschiedener Erfolge von Betroffenen-Initiativen, wie der Verbesserung der psychischen Gesundheitsversorgung mittels innovativer Modelle oder der Verankerung von Rechten von Menschen mit Behinderung, Stigma und Vorurteile gesellschaftlich stabil bleiben (Angermeyer et al.
2013). Solange Menschen mit psychischer Erkrankung und Behinderung von einer vollen gesellschaftlichen Partizipation ausgeschlossen sind, zum Beispiel aufgrund von diskriminierender Gesetzgebung oder diskriminierenden Einstellungs- und Beförderungspraktiken (von Kardorff
2016), ist bloße Anti-Diskriminierung-Arbeit nicht ausreichend (Iezzoni
2016). Um ableistische Netzwerke sozialer Bedeutung nachhaltig zu verändern, müssen soziale Praktiken demnach nicht nur auf individueller und organisationaler, sondern auch auf struktureller Ebene adressiert und verändert werden.