Am 24.02.2022 begann die Invasion russischer Truppen in die Ukraine. Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag, gehalten am 17.09.2022, also ca. 7 Monate nach dem Beginn der „russischen Spezialoperation“. Er stand sicherlich unter dem Eindruck des russischen Präsidenten Wladimir Putin, seines beginnenden Truppenaufmarschs an den Grenzen der Ukraine und schließlich seines Angriffskrieges und der damit einhergehenden Verletzung des Völkerrechts. Im Jahr 2014 hatte Putin schon die Krim und Teile des Donbass annektiert.
Manche werden sich fragen, was Putin mit einem wissenschaftlichen Symposium für Psychotherapie zu tun hat, und eine gewisse Skepsis ist nachvollziehbar. Aber bei dem aktuellen Leitthema liegt es nahe, Putin und den Krieg in der Ukraine zu thematisieren. Allerdings ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Reisen des Autors in die Sowjetunion und später in die Russische Föderation, nach Polen und in die baltischen Staaten ein grundsätzliches Interesse an der aktuellen Geschichte zur Folge hatten.
„Bad“ und „evil“ meinen zunächst einmal das Gleiche: böse, schlecht, schlimm, übel, schädlich etc. „Bad“ ist aber trefflicher mit „schlecht“ zu übersetzen, „evil“ mit „böse“.
Unterschiede machen sich aber auch assoziativ fest, der „bad guy“, der für seine Ziele „über Leichen geht“, dem man sich nicht in den Weg stellen sollte, und das „evil beast“, das in unzähligen Thrillern und Horrorfilmen bemüht wird und bei dem neben der Macht die lustvolle Befriedigung über die Vernichtung der Kreatur eine große Rolle spielt. Filme oder Computerspiele wie Resident Evil thematisieren die Büchse der Pandora, die einmal geöffnet, Unheil über die Menschen bringt.
Putin ist doch zunächst einmal der „bad guy“. Spätestens der zweite Tschetschenienkrieg offenbarte einen Menschen, der auch vor brutalster Gewaltanwendung nicht zurückschreckte, eine Gewalt, die sich in Georgien, Syrien und nunmehr in der Ukraine fortsetzt.
Monokausale Denkweisen, einen einzelnen Menschen für ein gutes oder schlechtes bzw. böses Geschichtsereignis verantwortlich zu machen, greifen in der Regel zu kurz. Noch problematischer wäre es, würde man dessen Psychopathologie und „Kranksein“ als Agens einer Katastrophe deklarieren. Den Nationalsozialismus und seine Gräueltaten auf Hitler zu reduzieren, wie es viele der Eltern- oder Großelterngenerationen machten, verbietet sich nicht zuletzt nach seiner Aufarbeitung in Westdeutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Ohne eine willige deutsche Wählerschaft, die wiederum aber nicht loslösbar ist von den schwerwiegenden ökonomischen Verhältnissen der Weimarer Republik, dem damaligen unzureichenden Demokratieverständnis, aber auch der kollektiven narzisstischen Kränkung durch den verlorenen Krieg und die harten Versailler Bedingungen wäre der Erfolg Hitlers und seiner NSDAP nicht denkbar gewesen. Doch für den während des Nationalsozialismus verübten Völkermord sind auch diese Erklärungen unzureichend, denn es bedurfte Tausender weiterer Akteure, um diese unvorstellbaren Verbrechen zu begehen (siehe: Browning C. Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen).
Zu einer Regierungs- bzw. Herrschaftsform bedarf es immer gewisser Akteure, aber auch historischer, sozioökonomischer Bedingungen, die solche Akteure hervorbringen, deren sich solche Akteure bedienen oder Akteure und Bedingungen aus unterschiedlichen Gründen eine gute Passung ergeben.
Begonnen wird mit den historischen und sozioökonomischen, sicherlich sehr prägenden Sozialisationsbedingungen eines Putin.
Seit Michail Gorbatschow, später dann Boris Jelzin, dem Ende des Eisernen Vorhangs 1989 und dem Ende der Sowjetunion 1992 hat sich in Russland sowie in den mittel- und osteuropäischen Ländern enorm viel verändert, jedoch nicht nur zum Guten.
Antiliberalismus und Autoritarismus
Nicht wenige Historiker und Politikwissenschaftler sehen in dem weltweit zunehmenden Antiliberalismus, damit verbunden dem Erstarken eines Populismus und Autoritarismus, nicht nur in Ländern Mittel- und Osteuropas eine fruchtbare Bedingung für die Machtentfaltung eines Putin. In ihrem Buch
Das Licht, das erlosch beschreiben der bulgarische Politologe Iwan Krastev und der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Stephen Holmes die Folgen der seit 1989 als alternativlos erlebten unipolaren Ordnung des westlichen Liberalismus. Nach Meinung der beiden Autoren begann mit dem Jahr 1989 ein „dreißigjähriges Zeitalter der Nachahmung“ (Krastev und Holmes
2019). Während die Welt zuvor noch in den totalitären Osten und den freien Westen aufgeteilt war, veränderte sich die Lage nach dem Fall der Mauer. „Die Trennung verlief jetzt nicht mehr zwischen Osten oder Westen, sondern zwischen Nachahmern und Nachgeahmten, zwischen Ländern mit der Intention, demokratische Systeme zu errichten und etablierten Demokratien. Vorbilder und Nachahmer bildeten nunmehr eine problembehaftete Beziehung ‚innerhalb eines einzigen, unipolaren Systems“ (Krastev und Holmes
2019).
Noch vor wenigen Jahren wollten liberale Eliten so schnell wie möglich zu Wohlstand und Freiheit gelangen und waren bereit, westliche Ideale mehr oder minder kritiklos zu akzeptieren; nunmehr sind sie deren schärfste Gegner. Will man diesen Wandel von Gesellschaften verstehen, ist an mitteleuropäische Populisten wie Viktor Orbán oder Jarosław Kaczyński zu denken und ein kurzer Rückblick der Entwicklungsgeschichte dieser Länder nach der Wende 1989 und 1992 ist unabdingbar.
Im Jahr 1989 stand Liberalismus für individuelle Freiheit, Bewegungs- und Reisefreiheit, eine unabhängige Justiz und die Möglichkeit, staatlichen Verordnungen zu widersprechen, aber auch für das Recht, in aller Öffentlichkeit Forderungen an die Regierung zu stellen. Viele träumten von einer Art Umzug des postkommunistischen Europas in den Westen, wobei man sich die Vereinigung Europas analog zur Vereinigung Deutschlands vorstellte. Nicht gering war der Neid vieler Menschen aus Mittel- und Osteuropa auf die Menschen in Ostdeutschland, die quasi über Nacht in den Westen abgewandert waren und stolze Besitzer westdeutscher Pässe und D‑Mark-Scheine waren. Aber auch ohne diese Privilegien wanderten insbesondere junge Menschen in großer Zahl von Ost nach West, zumal in Zeiten des Kommunismus geografische Mobilität, in der Regel in Richtung Stadt bzw. Hauptstadt Ausdruck eines großen gesellschaftlichen Erfolgs war.
Und das sind die Zahlen: Zwischen 1989 und 2017 verloren Lettland 27 % seiner Bevölkerung, Litauen 22,5 % und Bulgarien fast 21 %. Zwei Millionen Ostdeutsche oder fast 14 % der Bewohner der DDR zogen nach Westdeutschland, 3,4 Mio. (ca. 16 %) nach Rumänen, die Mehrheit von ihnen, jünger als 40 Jahre, verließ das Land, nachdem es 2007 in die EU aufgenommen wurde (Krastev und Holmes 2022).
Wenige Jahre später hatte sich das Blatt aber gewendet. In vielen mittel- und osteuropäischen Staaten herrschten eine zunehmende soziale Ungleichheit, Korruption und eine massive, häufig undurchschaubare Umverteilung öffentlichen Eigentums in die Hände einiger weniger, nicht selten derjenigen, die schon zu Zeiten des Kommunismus zu den Eliten zählten. Während die Mehrheit, insbesondere der jungen Menschen, das Land verlassen wollte, erlebten sich die Menschen, die blieben, als Verlierer, ganz gleich, wie gut es ihnen in der alten Heimat ging.
Doch lässt sich aus diesen problematischen ökonomischen Entwicklungen wirklich ein so großer Zuspruch für die populistischen Parteien ableiten, die insbesondere bei den Menschen in der Provinz, jenseits der urbanen Zentren, viele Wählerstimmen finden? Krastev und Holmes sehen einen weiteren Grund in der Demütigung, „höchstens die minderwertige Kopie eines überlegenen Vorbilds zu sein und von ausländischen Begutachtern benotet zu werden, die nur vage interessiert sind und sich selten mit der Realität vor Ort vertraut gemacht haben“. Hier nun setzen die Populisten berechtigt und unberechtigt an, mit ihrem Anspruch auf Deutungshoheit, was nationale Tradition und nationale Identität sei.
Nach Krastev und Holmes richtet sich das populistische zornige Aufbegehren nicht etwa gegen einen Multikulturalismus, sondern vielmehr gegen den postnationalen Individualismus und Kosmopolitismus. Ihrer Meinung nach betrachtete z. B. das konservative Polen westliche Gesellschaften in Zeiten des Kalten Krieges als normal, weil ganz im Gegensatz zu kommunistischen Systemen Traditionen gepflegt wurden und der katholische Glaube gelebt werden konnte. Dem entgegen mussten die Polen nach der Wende erkennen, dass westliche „Normalität“ Säkularismus, Multikulturalismus, gleichgeschlechtliche Ehen etc. bedeutete. Die konservative Gesellschaft, die sich viele mittel- und osteuropäische Länder nach dem Untergang der Sowjetunion erhofften, gab es nicht mehr, sie war „weggespült vom Strom einer rasanten Modernisierung“ (Krastev und Holmes
2019, S. 80). Der Westen wiederum versteht den Illiberalismus in den postkommunistischen Ländern als Versuch, die Uhr zurückzudrehen sowie sexistischen, rassistischen und intoleranten Bestrebungen freien Lauf zu lassen.
Vieles von dem ist auch auf Putin und Russland übertragbar. Am 01.01.1992 verschwand die Sowjetunion von der Landkarte; sie war schlichtweg implodiert. Die Alternative zum Kapitalismus, der Kommunismus, der die ideale Gesellschaft immerfort beschworen hatte, war erloschen, noch bevor die Deutschen ausgelassen auf den zertrümmerten Resten der Berliner Mauer tanzten. Für den Westen kam diese Entwicklung mehr als überraschend, und viele waren der Meinung, dass das „große Zeitalter des ideologischen Konflikts“ vorbei und Russland auf dem Weg hin zu einer liberalen Demokratie sei (Fukuyama
1992). Dabei vergaß man die enorme narzisstische Kränkung einer ehemaligen Supermacht, deren Bürger und insbesondere deren ehemaliger politischer Eliten, insbesondere der Männer des Politbüros und des KGB. Krastev und Holmes vergleichen Putins Russland mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und beschreiben das Land als eine zornige, revisionistische Macht, „die offenbar alles daransetzt, die europäische Ordnung zu zerstören“ (Krastev und Holmes
2019, S. 119) Zwar ahmte Russland insbesondere die USA in vielerlei Hinsicht nach, doch war das Ziel keinesfalls die Bekehrung oder Assimilation, sondern eher Rache und Vergeltung für die immense narzisstische Wunde, die der Untergang der Sowjetunion für Russland bedeutete und die Putin 2005 als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ beschrieb.
Was Putin als geopolitische Katastrophe beschrieb, nahm seinen Lauf mit den letztendlich missglückten Wirtschaftsreformen Gorbatschows und Jelzins, die die russische Gesellschaft einerseits sozial abstürzen ließen, andererseits eine kleine Gruppe von Superreichen und eine neue soziale Ordnung schufen. Es war eine Zeit zunehmender politischer Spannungen, in denen insgesamt vier Regierungschefs ausgewechselt wurden; der fünfte war Wladimir Putin.
Das Land, das Putin von Jelzin übernahm, war herabgewirtschaftet; das Bruttosozialprodukt war in den zurückliegenden Jahren um 50 % gesunken; Renten und Beamtengehälter konnten kaum noch ausgezahlt werden; gegenüber dem Ausland hatte Russland Schulden in Höhe von 160 Mrd. Dollar; jeder vierte Russe lebte unter der Armutsgrenze.
Fasst man die Zeit zwischen 1989 und 1999 zusammen, hatten sich die Machtverhältnisse in Russland drastisch verändert. Die von der Jelzin-Administration angeschobene Privatisierung hatte eine neue Oberschicht zur Folge, die sowohl politisch wie auch gesellschaftlich zunehmend Machtansprüche hatte. Zunehmend gewannen ökonomische Eliten, insbesondere die „Oligarchen“ sowie das Komitee für Staatssicherheit, KGB, das seit 1991 als aufgelöst galt, de facto aber unter neuem Namen, nämlich Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation (Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoi Federazii, FSB) und Dienst der Außenaufklärung (Sluschba wneschnei raswedki, SWR) weiterexistierte, an Einfluss. Der Ex-KGB-Agent Putin nutzte seine jahrzehntelangen engen Verbindungen zu früheren Mitarbeitern des KGB, um den Oligarchen ihre Grenzen aufzuzeigen. Zwar durften sie Geld verdienen, bis hin zu märchenhaften Summen, solange sie sich politisch in seinem Sinn verhielten. Das war aber nur der Anfang. Später bemächtigten sich Putin und viele seiner KGB-Weggefährten dieses Kapitals, indem sie die Unternehmen der Oligarchen durch zweifelhafte Gerichtsverfahren in den Ruin trieben oder sie mithilfe hoher Gefängnisstrafen aus dem Verkehr zogen.
Putins Sanktionen eines „Fehlverhaltens“ lassen sich anschaulich an dem Schicksal von Michail Chodorkowski, dem damals mächtigsten Oligarchen und Besitzer von Yukos, einem der weltweit größten nichtstaatlichen Erdöl- und Petrochemiekonzern, studieren. Er hatte es gewagt, in der russischen Innenpolitik mitzumischen, Oppositionsparteien zu finanzieren und schließlich die Regierung und Putin vor laufender Kamera der Korruption zu verdächtigen. Chodorkowski wurde wegen Unterschlagung verhaftet, später zu 9 Jahren Haft in einem Straflager verurteilt; Yukos wurde zerschlagen.
Viele der Angaben zu Putins Kindheit und Adoleszenz stammen aus seiner Autobiografie (Dobbert
2015), von daher sind sie mit Skepsis zu betrachten. Putins Vater war Fabrikarbeiter in der Waggonbauindustrie und Mitglied der kommunistischen Partei. Er kämpfte im 2. Weltkrieg gegen die Wehrmacht. Seine Mutter, ebenfalls Fabrikarbeiterin, überlebte die deutsche Belagerung Leningrads. Die beiden ältesten Brüder Putins starben in den 1930er-Jahren, der nächst ältere Bruder starb während der Belagerung von Leningrad an Diphtherie. Der Vater wird zum Kriegshelden stilisiert. Freiwillig meldete er sich an die Front und kämpfte hinter den feindlichen Linien. Zusammen mit anderen Kameraden sei er von Dorfbewohnern an die Deutschen verraten worden; einzig der Vater entkam der Hinrichtung, indem er sich in einem Sumpf versteckte. Später bei der Verteidigung Leningrads sei er schwer verletzt worden, nur mithilfe eines alten Freundes und Nachbarn habe er überlebt. Der Vater habe seine Mutter während der Belagerung vor dem Tod bewahrt, den Tod des älteren Bruders hätten seine Eltern nicht verhindern können. Den Wahrheitsgehalt dieser Angaben wird man schwerlich prüfen können, interessant an Autobiografien im Allgemeinen und der von Putin im Besonderen sind deren Botschaften an die Gesellschaft, an das russische Volk. So sei die Erziehung vonseiten des kommunistischen Vaters streng gewesen, während die russisch-orthodoxe Mutter Milde habe walten lassen und ihn später heimlich, ohne Wissen des Vaters taufen lassen. Für entsprechende Botschaften ebenfalls tauglich erscheint die Mitteilung, dass sein Großvater Koch von Lenin und Stalin gewesen sei (Hill
2015). Putins Familie lebte in einer 20 m
2 großen Wohnung in Leningrad; Bad und Küche wurden mit den Nachbarn geteilt. In seiner Quasiautobiografie
Aus erster Hand, Gespräche mit Wladimir Putin (Putin et al.
2000) stellt Putin heraus, dass er in seiner Kindheit gar keine andere Wahl gehabt habe, als sich auf der Straße zu behaupten: „Ich war wirklich ein Rowdy, ein Gassenjunge“, und er überrascht mit folgender Anekdote: „Im Aufgang hausten Ratten. Meine Freunde und ich jagten sie immer mit Stöcken. Einmal entdeckte ich eine riesige Ratte und begann mit der Verfolgung, bis ich sie in die Ecke getrieben hatte. Nun konnte sie nicht mehr entkommen. Da bäumte sie sich plötzlich auf und ging auf mich los. Das geschah völlig unerwartet, und ich war einen kurzen Moment geschockt. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht und jagte mich! Sie sprang über die Treppenstufen nach unten. Ich war aber doch schneller und schlug ihr die Tür vor der Nase zu“ (Putin et al.
2000, S. 19). Die Schlüsse, die er aus diesem Erlebnis gezogen habe, erörtert Putin seinen Gesprächspartnern gegenüber freimütig. Angst nicht als Lähmung, sondern als Mutquelle zu erfahren, wenn man in die Enge getrieben ist: „Man muss in Gefahrensituationen angespannt sein, um angemessen reagieren zu können. Das ist wirklich wichtig.“ Den Gegner überraschen, statt sich in sein Schicksal zu fügen. Sich aufbäumen, wenn der andere mit Aufgabe rechnet. Hellwach noch an seine Chance glauben, wenn der andere zu siegesgewiss ist.
Kolportiert wird, dass Putin schon als Kind eine Armbanduhr und als Student ein Auto besaß, ein enormer Luxus zur damaligen Zeit, beides Geschenke der Eltern, „die ihr einziges überlebendes Kind vergötterten und bedingungslos verwöhnten“ (Kodyl
2015). Als Schüler der 9. Klasse bat Putin um Aufnahme in die Leningrader KGB-Zentrale, wo ihm der Rat erteilt wurde, zunächst Jura zu studieren. Nach seinem Studium an der Universität Leningrad war er von 1975–1982 KGB-Offizier in der ersten Hauptabteilung (Auslandsspionage), ab 1985 in Dresden.
Was die Dresdener Jahre anbelangt, so beschwerte sich Putin wiederholt über die geringe Bedeutung Dresdens und seiner Tätigkeit beim KGB. Nach den Recherchen von Belton, Autorin des 2020 erstmalig erschienenen und preisgekrönten Buchs
Putins Netz (Belton
2022), ist dieser Aussage wenig Glauben zu schenken. Im Gegenteil dürften die Dresdener Jahre für Putin, der auch einen Ausweis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR besaß, von eminent großer Bedeutung, ja sogar prägend gewesen sein, nicht zuletzt spricht dafür Putins frühzeitiger Anspruch auf eine KGB-Pension. Schon mit 39 Jahren, also 11 Jahre vor seinem offiziellen Pensionsalter, wurde ihm eine entsprechende Pension zugesprochen, was nur KGB-Agenten mit hervorragenden Leistungen gewährt wurde.
Putin war aber auch Augenzeuge, als Demonstranten am 05.12.1989 die Bezirksverwaltung der Stasi in Dresden besetzten. Als ein Teil der Gruppe zur benachbarten KGB-Residentur weiterzog, forderte Putin beim sowjetischen Militärkommando in Dresden Hilfe an, um das Gebäude zu sichern, doch statt Verstärkung erhielt er die Nachricht, dass Moskau schweige, von daher keine Unterstützung möglich sei. Putin soll die Haltung Moskaus noch lange Zeit als Verrat all dessen erlebt haben, wofür er sich Jahrzehnte engagiert hatte „… ich hatte damals ein Gefühl, als ob das Land nicht mehr existierte. Mir war klargeworden, dass auch die Sowjetunion krankte. Und zwar an einer tödlichen, unheilbaren Krankheit: der Paralyse der Macht“, sagte Putin später (Belton
2022, S. 85). Am 20.08.1991, am zweiten Tag des Militärputsches gegen die Regierung Gorbatschow, verließ Putin den KGB. Am 08.12.1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. Drei Jahre später wird Putin zum stellvertretenden Bürgermeister seiner Heimatstadt Leningrad, nunmehr wieder St. Petersburg, ernannt. Vier Jahre später wird Putin Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB.
Die St. Petersburger Zeit lässt ein klares Bild von Putin vermissen. Selten steht er in der Öffentlichkeit, mit jedem scheint er ein Auskommen zu haben, dabei herrscht in dem damaligen St. Petersburg nicht zuletzt aufgrund völliger Unzulänglichkeit der Jelzin-Regierung ein Ausnahmezustand, eine Art Anarchie.
Erinnerung des Autors: Ende Oktober 1999, dem Jahr, an dem Jelzin zurücktrat und Putin die Regierungsgeschäfte überließ, reiste ich auf Einladung einer Freundin, die am Goethe-Institut arbeitete, nach Moskau und St. Petersburg. Ich erinnere mich an lange Schlangen vor den Geschäften und leere Regale. An den U‑Bahnstationen standen zahllose Frauen und ältere Männer, die nicht etwa Obst oder Gemüse verkauften, sondern Vögel, Kaninchen, Hunde sowie Bilder, Porzellan oder Besteck. Wir hatten eine Wohnung in einer Plattenbausiedlung zugewiesen bekommen. Nicht wenig erstaunt waren wir über deren Zustand, denn sie war bewohnt. Die Schränke waren voller Kleidungsstücke eines Mannes, die Pantoffel standen am Bett. Im Bad lag ein Rasierapparat. Zahnbürste und Zahnpasta fehlten. Wir haben nie erfahren, was es mit dem Mann auf sich hatte, Nachbarn berichteten, er sei über Nacht verschwunden. Es herrschte Gasknappheit, so dass in dem Wohnviertel, in dem wir wohnten, die Heizungen häufig kalt blieben und wir, wenn wir nicht vor die Türe gingen, den Tag in voller Montur im Bett verbrachten. Bei Fahrten mit dem Auto wurden wir gewarnt, immer schwarzen BMWs, Volvos und Mercedes Platz zu machen, in keinem Fall mit dem Fahrer eines solchen Fahrzeugs auf der Straße einen Streit vom Zaun zu brechen. Später in St. Petersburg erhielten wir allabendlich vom Portier die Anfrage, ob wir an jungen Hostessen interessiert seien. In der Lobby konnten wir uns des Verdachts nicht erwehren, dass es sich in der Mehrzahl um junge Studentinnen handelte.
Hinter den Kulissen tobte der Kampf um Pfründe zwischen ehemaligen KGB-Funktionären, den Oligarchen und der Mafia. Später untersuchte ein Ausschuss Putins Geschäfte und kam zu dem Schluss, dass Putin während seiner Amtszeit illegale Geschäfte im Wert von etwa 100 Mio. Dollar getätigt habe. Zur Anklage kam es nicht. Der einzige, der sich öffentlich äußert und Kritik an den Aktivitäten des KGB übt, ist Anatoli Sobtschak, der frühere Bürgermeister von St. Petersburg und damit ehemaliger Vorgesetzter Putins. Vier Monate nach seinem Zeitungsartikel ist er tot. Als offizielle Todesursache wird ein Herzinfarkt genannt; die Autopsie kann diese Diagnose nicht bestätigen (Belton
2022).
Die Skrupellosigkeit und Brutalität Putins werden vollends im Dezember 1999 deutlich. In einem Einkaufszentrum der Innenstadt Moskaus ereignet sich eine Bombenexplosion, 94 Menschen sterben. Eine knappe Woche später zerstört eine weitere Bombenexplosion einen Wohnblock, wodurch 119 Menschen zu Tode kommen. Für beide Bombenanschläge werden Separatisten aus Tschetschenien verantwortlich gemacht. Eine weitere Woche später werden 2 Männer beobachtet, die schwere Säcke aus einem Auto in ein Haus schleppen. Die herbeieilende Miliz findet den gleichen Sprengstoff Hexogen, der schon bei den früheren Bombenexplosionen verwendet wurde. Nunmehr gerät der FSB in Verdacht, und Putin bekommt in Moskau den Spitznamen „Herr Hexogen“. In seinem Buch
Darkness at dawn: the rise of the russian criminal state kommt der Autor Satter, Journalist der
Financial Times zu dem Schluss, dass die Explosionen vom FSB herrührten (Satter
2003), mit dem Ziel, die Wiederaufnahme des Tschetschenienkriegs gegenüber der Öffentlichkeit zu legitimieren. Dies wird später auch von französischen und deutschen Quellen (Deniau und Gazelle
2022; Eigendorf
2022) bestätigt. Bezeichnend ist nicht zuletzt, dass zahlreiche Abgeordnete der Duma, die beabsichtigten, Untersuchungen der Explosionen anzustellen, später ermordet wurden. Durch seine entschlossene Entscheidung zum Krieg in Tschetschenien gelang es Putin letztendlich aber, die Präsidentschaftswahl im März 2000 zu gewinnen.
Und noch zwei Beispiele für Putin als jungen Präsidenten Russlands. Am 12.08.2000 explodieren mehrere Torpedos des russischen Atom-U-Boots „Kursk“, das unmittelbar sinkt. Die Druckwelle breitet sich in die Kommandozentrale des U‑Boots aus, sodass die dort befindliche Besatzung sofort stirbt, Befehle an die übrige Besatzung können nicht mehr gegeben werden. Erst zwölf Stunden später wird die Nachricht vom Untergang der „Kursk“ an das Verteidigungsministerium weitergereicht; Putin erfährt erst am nächsten Morgen von dem Unglück. Zu dieser Zeit verweilt er im Sommerurlaub in Sotchi am Schwarzen Meer. Er aber setzt seinen Urlaub fort, obwohl sich zunehmend das Schicksal der restlichen 118 Besatzungsmitglieder verdüstert. Nach dem britischen
Guardian wurde Putin in dieser Situation gefilmt; zu sehen ist ein amüsierter Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln beim Barbecue in seiner Ferienvilla am Schwarzen Meer (Gentleman
2002).
Historisch lassen sich weitere Beispiele für den „bad guy“ aufzeigen. Am 23.10.2002 stürmen 40 bewaffnete Tschetschenen das von 900 Zuschauern besuchte Dubrowka-Theater in Moskau mit der Forderung, die Kampfhandlungen in Tschetschenien einzustellen. Vielleicht sind dem ein oder anderen Leser die Bilder einiger Geiselnehmerinnen noch bekannt, in ihren schwarzen Hidschabs, die „Schwarzen Witwen“, die sich Sprengstoffgürtel umgeschnallt hatten. Mehr als 3 Tage dauerte die Geiselnahme, die Putin durch die Einleitung von Fentanyl durch die Lüftungsschächte des Theaters beendete, was den Tod von 115 Theaterbesuchern zur Folge hatte. Knapp 2 Jahre später stürmen tschetschenische Terroristen in einer kleinen Stadt im Nordkaukasus ein Schulfest und nehmen 1100 Eltern, Kinder und Lehrer als Geiseln. Zwei Tage dauert die Geiselnahme, die Schule wird gestürmt, 330 Geiseln sterben, die Hälfte davon sind Kinder.
An weitere Beispiele soll erinnert werden. Zu denken ist an den Krieg in Georgien, das russische Engagement in Syrien, die Annexion der Krim und Teile des Donbass bis hin zu der derzeitigen „Sonderoperation“ in der Ukraine. Das Schockierende an der russischen Kriegsführung scheint sich immer zu wiederholen. So erinnert die Hafenstadt Mariupol an das Schicksal von Aleppo: „… belagert und in Schutt und Asche gebombt“ (Kruse
2022).
In einem interessanten Podcast fragt Lex Fridman, ein russisch-ukrainischer US-amerikanischer Informatiker, Wissenschaftler und Lektor am Massachusetts Institute of Technology, seit einiger Zeit außerdem YouTuber und Podcaster, Stephan Kotkin nach möglichen Parallelen zwischen Stalin, der 1953, also vor fast 70 Jahren starb, und Putin. Kotkin ist einer der bedeutsamsten US-amerikanischen Historiker, Autor für Geschichte und internationale Beziehungen an der Princeton Universität und spezialisiert auf russische und sowjetische Geschichte. Er weist Parallelen zunächst einmal zurück, sei doch Putin qualitativ und quantitativ mit der Macht, aber auch den Verbrechen weder mit Stalin, Hitler noch Mao vergleichbar. Aber immerhin lebe er am selben Ort wie Stalin, durchschreite dieselben Flure, arbeite und halte Konferenzen in denselben Räumen ab (Fridman
2022).
Indem Putin im Kreml, dem Zentrum der Staatsmacht, der Sowjetregierung und später der Russischen Föderation regiert, schreibt ihm Kotkin vergleichbare Grundüberzeugungen und Befindlichkeiten, insbesondere gegenüber dem Westen zu. Sein Streben nach Macht sei verbunden mit dem Bewusstsein, das Russland, das größte Land der Erde, eine wichtige Volkswirtschaft und zumindest militärisch das zweit- oder drittmächtigste Land sei. Doch nach Stalin geriet die Sowjetunion in fast jeder Hinsicht immer mehr ins Hintertreffen. Das Ungleichgewicht zum Westen und mittlerweile auch gegenüber China lässt sich am Bruttoinlandsprodukt aufzeigen. Das Bruttoinlandsprodukt Russlands ist allenfalls mit Italien vergleichbar, und wirft man einen Blick auf die Lebenserwartung, werden Männer in Italien derzeit ca. 80 Jahre und russische Männer 66 Jahre alt (
https://www.laenderdaten.Info/lebenserwartung.php).
Es ist das nichtzufriedenstellende Geltungsbedürfnis vieler russischer Herrscher, sei es vieler Zaren, Peters des Großen (1672–1725) und schließlich Stalins gegenüber dem Westen, gleichzeitig aber die Erfahrung, dem Westen in vielerlei Hinsicht unterlegen zu sein, die Erfahrung, zu imitieren und nicht imitiert zu werden. Stalin gehörte zu den Kriegsgewinnern, und seit seinem Tod 1953 versuchen seine Nachfolger, sein Erbe zu erhalten, anfangs mit mäßigem Erfolg und zuletzt dem kompletten Niedergang der Sowjetunion 1991. Seit dem Untergang haben sich die Truppen Moskaus von vielen Positionen zurückziehen müssen, die Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg erobert hatte. Dieser Rückzug erinnert Kotkin an den Feldzug Napoleons, aber in umgekehrter Richtung, nicht von Moskau nach Paris, sondern zurück von Warschau, Ostberlin, Talin und Riga, und Putin versucht, diese Verluste wieder rückgängig zu machen. Ein Dilemma!
Ohne Zweifel, verglichen mit Stalins Russland mit seinen Grenzen von 1945 ist das heutige Russland geschrumpft und zwar erheblich, man könnte sagen, zurück zu den Grenzen von Peter dem Großen. In der gleichen Zeit ist der Westen stärker geworden, und China als östlicher Nachbar Russlands konkurriert mittlerweile mit der weltweit größten Wirtschaftsmacht, den Vereinigten Staaten. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist größer geworden, der Anspruch auf eine Weltmacht und die ernüchternde Wirklichkeit, die sich in der Absage der Ukraine an Russland und der Hinwendung zum Westen zuletzt am Beispiel der Majdan-Revolution in Kiew 2014 und der vielen Proteste in Belarus 2020 manifestierte.
Dabei waren Anfang der Jahrtausendwende durchaus Annäherungsversuche vonseiten Putins an den Westen zu beobachten. Zu den ersten Amtshandlungen von Putin zählte es, eine Abhörstation auf Kuba zu schließen. Putin bemühte sich um eine engere Beziehung zu dem US-Präsidenten George W. Bush, und er gehörte zu den ersten Staatschefs, der diesem nach den Anschlägen vom 11. September sein Beileid ausdrückte und ihm sogar russische Stützpunkte in Zentralasien gegen die Taliban in Afghanistan anbot. Aber Putin erwartete Gegenleistungen. Das Gegenteil trat für ihn ein, als die Vereinigten Staaten einseitig ein Raketenabwehrsystem in den ehemaligen Ländern des Warschauer Paktes errichteten. Wiederholt warfen Putin und sein Beraterstab dem Westen vor, sein Versprechen gegenüber Gorbatschow, die NATO nach Osten nicht zu erweitern, gebrochen zu haben. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung wird diese Debatte auch in Deutschland immer wieder geführt. Gesprächsprotokolle und Notizen weisen tatsächlich darauf hin, dass solche Aussagen gegenüber Gorbatschow gemacht wurden, u. a. auch von dem damaligen deutschen Außenminister Genscher. Dennoch gibt es keinerlei entsprechende Verträge, und nur die gelten in internationalen Beziehungen (Sasse
2022). So war es nach 1991 das Recht der nunmehr souveränen ostmitteleuropäischen Staaten, die NATO- und EU-Mitgliedschaft anzustreben. Die schon zu Zeiten der Sowjetunion ubiquitär anzutreffende Annahme einer konspirativen Haltung des Westens keimte in Putin wieder auf bis hin zu der Überzeugung, dass der Westen Schuld an allen Rückschlägen und Unzulänglichkeiten Russlands sei. Alles, was auf der Welt geschieht und nicht im Interesse Russlands ist, ist seiner Ansicht nach Ausdruck der destabilisierenden Handlungen des Westens gegenüber Russland.
Damit aber nicht genug. In den letzten Jahren widmete sich Putin immer mehr der russischen Geschichte, insbesondere Russlands historischen Größen, wobei Peter der Große (1672–1725) und Alexander III. (1845–1894) zwei der wichtigen Vorbilder Putins sind. Letzterem wird der Satz zugeschrieben, Russland habe nur zwei Verbündete: die Armee und die Flotte. In seinem Buch
Zeitenwende zitiert der Autor Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau, Putin bei dessen Einweihung eines Denkmals für den Zaren 2017 auf der Krim mit den Worten: „Er [der Zar] fühlte immer eine enorme persönliche Verantwortung für das Schicksal seines Landes. Er tat alles, um die Nation voranzubringen und zu stärken und sie vor Turbulenzen, inneren und äußeren Bedrohungen zu schützen“, was gemäß von Fritsch (
2022) einem Selbstporträt gleichkommt. Putin beschreibt Alexander als Friedensstifter „… aber nicht indem er Zugeständnisse machte, sondern durch eine faire und unerschütterliche Entschlossenheit, …diese Politik stellte sicher, dass Einfluss und Autorität Russlands in der Welt wuchsen.“ Zunehmend machen sich bei Putin aber auch altrussische Vorstellungen bemerkbar, die von der Kiewer Rus handeln, dem mittelalterlichen altostslawischen Großreich, entstanden im 11. Jh., das als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus ohne feste Grenzen, angesehen wird, ein Gebiet zwischen dem östlichen Polen und dem heutigen Finnland. Putins imperiale Träume einer Gemeinschaft von Russen, Weißrussen und Ukrainern. Unterstützung erhält Putin in seinen Allmachtträumen nicht nur von dem Oberhaupt der russischen-orthodoxen Kirche, Kyrill, dem „Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus“, wie sein offizieller Titel heißt, sondern auch von einem großen Teil der russischen Bevölkerung, die sich und ihr Land von dem Westen nicht angemessen gewertschätzt, gleichzeitig aber in Anbetracht von dessen Dekadenz, Verfall und Hedonismus überlegen fühlt.
Einer der angesehensten Schriftsteller Russlands Viktor Jerofejew schrieb dazu im Mai 2022: „Ein Minderwertigkeitskomplex und ein Komplex der Überlegenheit über alle anderen Völker produzieren einen Casus Belli, das Präludium für einen bestialischen Krieg ohne Regeln“ (Jerofejew
2022).
Putins War heißt ein aktueller Podcast zum Krieg in der Ukraine, doch der Titel greift zu kurz, ist sogar falsch, denn Putin und sein Krieg stehen für mehr, nämlich für einen Teil der russischen Gesellschaft. Nach Jerofejew entspricht nur ein Teil der traditionellen russischen Werte denen im Westen. Da gibt es den Begriff des „Allmenschen“ von Dostojewski, der gegenüber den unterschiedlichen Kulturen der Welt offen ist, Sanftheit, die Hilfsbereitschaft gegenüber dem Mitmenschen und die Fürsorglichkeit. Doch sind russische Werte historisch stark an die jeweiligen Stände gebunden, „zersplitterte Wertvorstellungen“ wie Jerofejew sie nennt, Werte von Adligen, Gutsbesitzern, Offizieren, Kaufleuten, Bauern oder Arbeitern, die aber alle eine tiefe Archaik gemeinsam haben, wozu insbesondere der Kampf um das Überleben, damit verbunden Merkmale wie Gerissenheit, Stärke, Argwohn und Misstrauen gehören.
Putin ist kein Ideologe, immer mehr stellt er die genannten traditionellen Werte in den Vordergrund, und das Volk dankt es ihm, indem es ihm wiederholt die Staatsgeschäfte anvertraut, die vollständige Unterordnung gegenüber dem Kreml und seiner Funktionsträger. Nach Anne Applebaum (
2022), einer in den USA geborenen Historikerin und Autorin, ist Russland ein autokratisches System, ein System, das auf eine einzelne Person, einen Führer zugeschnitten ist, der fehlerlos ist, dem nicht widersprochen und der nicht kritisiert werden darf. Er kann nicht ausgetauscht werden, und eine geregelte Nachfolge gibt es nicht.
Putin ist sicherlich kein Verrückter oder Wahnsinniger, wie ihn die aktuelle Außenministerin Deutschlands, Annalena Baerbock, bezeichnete, sondern eher ein Mensch, der zu den Glaubenssätzen seiner Kindheit auf den Hinterhof in Leningrad zurückkehrt, um aus Konflikten als Sieger hervorzugehen. Zu unterliegen bedeutet Unheil in Form von Demütigung und Erniedrigung. Siegen ist für Putin nicht nur in asiatischen Kampfsportarten großgeschrieben, sondern auch beim KGB und später dann als Vizebürgermeister von St. Petersburg in den anarchistisch anmutenden Jahren der Jelzin-Regierung, wodurch vielleicht ein Teil der dichotomen Denkweise von Putin zu erklären ist, Sieger oder Verlierer bzw. Freund oder Verräter.