Im Folgenden gehen wir zunächst der für gesundheitliche Vorausverfügungen relevanten Frage nach der Einschätzung von Lebensqualität und ihrer Entwicklung über die Zeit nach. Dabei argumentieren wir, dass derartige Einschätzungen implizit oder explizit auf umfassendere Vorstellungen vom zeitlichen Verlauf eines guten Lebens verweisen. Aus diesem Grund wenden wir uns im Anschluss Fragen des guten Lebens in der Zeit zu und arbeiten typologisierend unterschiedliche Vorstellungen eines guten Lebens und seiner zeitlichen Aspekte heraus, an denen sich die Implikationen der zeitlichen Erstreckung und Verlaufsstruktur guten Lebens für gesundheitliche Vorausverfügungen exemplarisch deutlich machen lassen.
Lebensqualität im Lebensverlauf
Die Behandlungspräferenzen, die im Sinne zukunftsbezogener Selbstbestimmung im Rahmen einer Vorausverfügung formuliert werden, sind in hohem Maße mit Zeitlichkeit verknüpft. Beim Verfassen einer solchen Verfügung kommen antizipierende Vorstellungen und Bewertungen der eigenen Lebenssituation und Lebensqualität zu einem späteren Zeitpunkt im Leben zum Tragen. Da die Reichweite von Patientenverfügungen nicht auf den Sterbeprozess im engeren Sinne beschränkt ist, muss es dabei keineswegs ausschließlich um diese allerletzte Lebensphase und die damit berührten Entscheidungen am unmittelbaren Lebensende gehen. So können beispielsweise auch gesundheitliche Szenarien nach einer möglicherweise wiedererlangten Einwilligungsfähigkeit und allgemein Erwartungen bezüglich künftiger Lebensperspektiven in die betreffenden Überlegungen hineinspielen.
Nun lautet allerdings ein verbreiteter Vorbehalt gegenüber gesundheitlichen Vorausverfügungen wie Patientenverfügungen, dass sich der ihnen zugrundeliegende Gedanke einer zukunftsbezogenen Selbstbestimmung letztlich als illusorisch erweise, da es überhaupt nicht möglich sei, sich die betreffenden gesundheitlichen Zukunftsszenarien ex ante angemessen vorzustellen und sie entsprechend zu beurteilen (Olick
2014). Grundsätzlich sei Lebensqualität überhaupt allenfalls begrenzt objektivierbar, da sie letzten Endes immer im momentanen subjektiven Erleben und Befinden der Betroffenen selbst gründe. Gerade die subjektive Erlebnisqualität schwerer Erkrankungen, die etwa mit grundlegenden Veränderungen des körperlichen Empfindens und psychischen Erlebens einhergehen können, scheint für gesunde Menschen nur schwer vorstellbar zu sein (Coors
2014; Kaelin
2016; Hole und Selman
2019). Entsprechend zeigen empirische Studien etwa, dass chronisch kranke Menschen ihre eigene Lebensqualität vielfach durchaus anders einstufen, als dies aus einer Außenperspektive zu vermuten wäre (Ehlich
2019). Die Entwicklung von prozeduralen Ansätzen, die Versorgungsplanung als kontinuierlichen Prozess begreifen, trägt diesem Umstand Rechnung (In der Schmitten et al.
2016).
Die eingangs angesprochenen demenziellen Erkrankungen stellen in dieser Hinsicht eine besondere Herausforderung dar. Neben der allgemeinen Nicht-Antizierbarkeit von Lebensqualität im Lebensverlauf spielt hier auch die Frage der (In‑)Stabilität der zu Grunde liegenden Wertmaßstäbe selbst eine Rolle. In diesem Zusammenhang wird mitunter auch von Demenz als einer „transformativen Erfahrung“ (Walsh
2020) gesprochen, die die Betroffenen in den Grundfesten ihres Personseins verändert und daher auch mit einem moralisch bedeutsamen Wandel von Präferenzen einhergehen kann oder ihn zur Folge hat, der die Anwendbarkeit gesundheitlicher Vorausverfügungen grundsätzlich in Frage stellen kann (Walsh
2020). Tatsächlich zeigen empirische Untersuchungen z. B., dass Familienangehörige wie auch generell Außenstehende die Lebensqualität von Menschen mit Demenz tendenziell schlechter einschätzen als diese selbst (Moyle et al.
2012). Dabei scheinen neben eigenen Belastungen im Fall pflegender Angehöriger auch ein von rationaler Selbstbestimmung und Lebensgestaltung geprägtes Menschenbild und Lebensmodell eine maßgebliche Rolle zu spielen (Schweda
2018).
Auch allgemein kann die Einschätzung der eigenen Lebensqualität zu einem späteren Zeitpunkt im Leben und insbesondere im höheren Lebensalter eine erhebliche Herausforderung darstellen. So sind etwa negative, defizitorientierte Bilder des Alterns und höheren Alters im Zeichen von Schmerzen, Belastungen und zunehmenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen weit verbreitet (Ng et al.
2015; Beyer et al.
2017; Hahn und Kinney
2020). Dagegen deuten empirische Untersuchungen darauf hin, dass die tatsächliche Entwicklung des subjektiven Wohlergehens über den Lebensverlauf eine U‑Kurve beschreibt: Die selbsteingeschätzte Lebenszufriedenheit liegt in Kindheit und Jugend auf einem vergleichsweise hohen Niveau, fällt jedoch ab Anfang 20 kontinuierlich ab und erreicht um die Lebensmitte eine Talsohle, bevor sie wieder ansteigt und im höheren Alter erneut das Ausgangsniveau erreicht (Schwandt
2013; Blanchflower
2020). Entsprechend beurteilen ältere Menschen selbst die eigene Lebensqualität im fortgeschrittenen Lebensalter vielfach höher, als es von jüngeren vermutet oder für sich selbst erwartet wird (Popp
2017). So berichten die 65- bis 85-Jährigen in der Altersstudie 2017 von einer hohen Lebenszufriedenheit (Altersstudie
2017). Als eine Erklärung für die unerwartete Entwicklung des subjektiven Wohlergehens und der selbsteingeschätzten Lebenszufriedenheit im höheren Alter wird unter anderem die Adaptationsleistung einer sukzessiven Anpassung der eigenen Zielsetzungen und Bewertungsmaßstäbe an die zunehmend begrenzteren Möglichkeiten diskutiert (Schwandt
2013).
Unter dem Strich verdeutlichen die angeführten Beispiele somit nicht nur einige zentrale Herausforderungen bei der Entwicklung der für gesundheitliche Vorausverfügungen relevanten antizipierenden Annahmen und Bewertungen hinsichtlich der eigenen Lebenssituation und Lebensqualität zu einem späteren Zeitpunkt im Leben. Sie werfen zugleich auch ein Licht auf die grundlegende Bedeutung umfassenderer Wertmaßstäbe und Lebensorientierungen für solche Annahmen und Bewertungen. Dass gesundheitsbezogene Lebensqualität mit individueller Wahrnehmung, Vorstellung und Zielverfolgung zusammenhängt, deutet sich bereits in medizintheoretischen Überlegungen zu einem normativistischen Verständnis von Gesundheit und Krankheit an (Nordenfelt
1987). Ihre Beurteilung verweist damit letzten Endes auf mehr oder weniger explizite Vorstellungen davon, was ein gutes, sowohl subjektiv erfülltes als auch objektiv gelingendes Leben im Kern ausmacht (Kipke
2016). Allerdings hat sich ebenfalls herausgestellt, dass derartige maßgebliche Zielsetzungen und Lebensorientierungen keineswegs ein für alle Mal gleichbleiben, sondern sich im Laufe des Lebens verändern und so für verschiedene Lebensphasen ganz unterschiedlich ausfallen können. Gerade unter dem Eindruck schwerer Erkrankungen, aber auch im Zuge des Älterwerdens kann es zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit und Verschiebung von grundlegenden Wertvorstellungen und Lebensorientierungen kommen (Schwartz und Sprangers
2000). Ein umfassenderes Verständnis der Wertimplikationen gesundheitlicher Vorausverfügungen setzt demnach eine eingehendere Auseinandersetzung mit Vorstellungen guten Lebens und ihrer zeitlichen Dimension voraus.
Vorstellungen guten Lebens und gesundheitsbezogene Zukunftsszenarien
Strebensethische Fragen guten, gelingenden Lebens haben in den vorrangig sollensethisch ausgerichteten Diskursen der Medizinethik bislang kaum systematische Berücksichtigung gefunden. Während man sich auf Fragen der moralischen Akzeptabilität medizinischer Entscheidungen und Handlungen und die wechselseitigen Rechte und Pflichten von Ärztinnen bzw. Ärzten und Patientinnen bzw. Patienten konzentrierte, wurden individuelle Wert- und Lebensorientierungen vielfach als Sache ethisch nicht weiter hinterfragbarer subjektiver Präferenzen angesehen. Dennoch spielen Vorstellungen guten Lebens gerade im Kontext von Medizin und Gesundheitsversorgung vielfach eine entscheidende Rolle (Kipke
2013; Kipke und Rüther
2021). Welche Bedeutung sie für die Bewertung des Verlaufs des eigenen Lebens haben können, lässt sich anhand der bekannten Typologie hedonistischer, subjektiver und objektiver Theorien des guten Lebens (Steinfath
1998) exemplarisch verdeutlichen, auch und gerade im Hinblick auf gesundheitliche Vorausverfügungen.
Für
hedonistische Theorien sind Lust und Unlust die maßgeblichen Gesichtspunkte zur Beurteilung der Güte eines Lebens. Ein gutes Leben ist für Hedonisten demnach letztlich eines, dass möglichst viele lustvolle, also von Freude, Genuss und Vergnügen geprägte Erlebnisse, und möglichst wenig gegenteilige Erfahrungen wie Leid, Schmerz und Verdruss beinhaltet (Steinfath
1998). Eine solche hedonistische Perspektive scheint mit Blick auf gesundheitsbezogene Zukunftsszenarien von Krankheit und höherem Alter eher kein gutes Leben erwarten zu lassen. Zum einen lassen die Möglichkeiten des Erlebens von Freude und Vergnügen einer verbreiteten Vorstellung zufolge krankheits- sowie altersbedingt nach, etwa aufgrund körperlicher Einschränkungen oder einer weniger empfänglichen psychischen Disposition. Zum anderen scheinen Schmerzen, Beeinträchtigungen und Unannehmlichkeiten in Folge von Krankheit, Gebrechlichkeit und körperlichen Verschleißerscheinungen, aber auch psychischer Verstimmung, Verlusterfahrungen und Einsamkeit zuzunehmen (Ng et al.
2015; Beyer et al.
2017). Aus einer rein hedonistischen, also auf die Maximierung von Lust und die Vermeidung von Leid ausgerichteten Perspektive scheinen Krankheit und höheres Lebensalter somit wenig zu einem guten, erstrebens- und lohnenswerten Leben beitragen zu können. Tatsächlich spielen derartige Gesichtspunkte in gesundheitlichen Vorausverfügungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Insbesondere die Aussicht auf ein freudloses Dahinvegetieren und die Furcht vor unerträglichem Leid und Schmerzen am Ende des Lebens kann die Abfassung von Patientenverfügungen bestimmen und den Wunsch nach einer restriktiven Handhabung lebenserhaltender Maßnahmen sowie einer extensiven Palliation begründen (Levy et al.
2000; Altenbericht
2010).
Für subjektive Theorien wie insbesondere
Wunschtheorien steht dagegen die Erfüllung der eigenen zentralen und wohlinformierten Wünsche im Vordergrund. Ein gutes Leben ist demnach eines, in dem die maßgeblichen persönlichen Vorhaben realisiert und Ziele erreicht werden können (Steinfath
1998). In einer solchen Perspektive erscheint die Einschätzung von Entscheidungen am Lebensende keineswegs so eindeutig wie in einem hedonistischen Bezugsrahmen. Leid und Schmerz mögen sogar in Kauf genommen werden, um bestimmte zentrale Wünsche zu verwirklichen, etwa eine bewusste Abschiednahme von Angehörigen oder die Beilegung eines lange bestehenden Konfliktes (Wuermeling
2000). Letzten Endes hängen die Aussichten eines guten Lebens in Krankheit oder höherem Lebensalter aus Perspektive der Wunschtheorie vom konkreten Inhalt der jeweiligen lebensbestimmenden Präferenzen ab. Auf den ersten Blick mag es dabei erscheinen, als verlöre ein Leben jeden Sinn, dessen wesentliche Ziele und Vorhaben entweder nicht mehr zu verwirklichen oder bereits verwirklicht sind. Tatsächlich scheinen etwa Diskussionen um die Bedeutung der Vorstellung eines vollendeten Lebens („completed life“) im höheren Alter für Entscheidungen am Lebensende auf diesen Gedanken zu rekurrieren (Gilleard
2020). Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Wünsche keineswegs über den Lebensverlauf konstant bleiben müssen. Wie bereits angesprochen, können speziell Erfahrungen von Krankheit, Einschränkung und Behinderung dazu führen, dass eigene Ziele und Vorhaben überdacht und im Lichte der gegebenen Möglichkeiten angepasst werden (Sprangers und Schwartz
1999; Eton
2010). Gerade die mit lebensbedrohlichen Erkrankungen einhergehende Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit kann zu einer grundlegenden Infragestellung und Neuausrichtung der maßgeblichen Präferenzen und Prioritäten einer Person führen, die sich auch in ihrer gesundheitlichen Vorausplanung niederschlägt (Schwartz und Sprangers
2000; Lykins et al.
2007).
Im Rahmen
objektiver Theorien des Guten bemisst sich das Gelingen eines Lebens schließlich weder an subjektiven Lustempfindungen noch an persönlichen Präferenzen, sondern an bestimmten Gütern, Werten oder Zwecken, die unabhängig davon als gut, sinnvoll oder erstrebenswert anzuerkennen sind (Steinfath
1998). Ungeachtet der kontrovers diskutierten Frage, wie sich eine solche objektive Perspektive überhaupt begründen ließe und welche konkreten inhaltlichen Bestimmungen sie dem guten Leben verleihen würde, lassen sich doch auch hier gewisse allgemeine Implikationen für die Einschätzung von Entscheidungen am Lebensende aufzeigen. Je nach Inhalt und Struktur der „objektiven Liste“ erscheint ein gutes Leben hier auch im höheren Alter oder am Lebensende zunächst durchaus möglich, gegebenenfalls sogar gerade dann. Zeitgenössische objektive Theorien wie Martha Nussbaums Befähigungsansatz entfalten etwa auf einer anthropologischen Grundlage eine differenzierte Darstellung wesentlicher menschlicher Befähigungen, die z. B. körperliche Integrität, aber auch geistige Betätigung und soziales Eingebundensein als grundlegende Bedingungen guten Lebens einschließen (Nussbaum
2011). Auch wenn die systematische Explikation dieser Bedingungen mit Blick auf das höhere Lebensalter oder gar das Lebensende noch aussteht, können sie doch auch hier von erheblicher Bedeutung sein (Pfaller und Schweda
2019). Darüber hinaus kann das höhere Lebensalter dem Individuum auch ganz neue Wertdimensionen eröffnen. In klassischen Theorien des Guten wie der platonischen wird ein gelingendes Leben beispielsweise mit der Erlangung bestimmter wesentlicher Einsichten und der Ausprägung entsprechender charakterlicher Einstellungen in Zusammenhang gebracht, die Zeit in Anspruch nehmen und daher überhaupt erst in einem höheren Alter oder angesichts des Lebensendes zu erreichen sind (McKee und Barber
2001). Neuere gerontologische Theorien wie die der Generativität oder der Gerotranszendenz greifen derartige traditionelle Vorstellungen auf und suchen sie in einem zeitgemäßen theoretischen Bezugsrahmen neu zu formulieren. Auch und gerade das höhere Lebensalter eröffnet dem Individuum demnach neue Entfaltungsperspektiven und Erfüllungsmöglichkeiten durch Einrücken in umfassendere historische, kosmische oder spirituelle Zusammenhänge, die auch bei gesundheitlicher Vorausplanung zu berücksichtigen sind (Jeong et al.
2012).
Die Zeitstruktur guten Lebens und gesundheitliche Vorausverfügungen
Um eine differenziertere Sicht auf die Bedeutung der Zeitstruktur guten Lebens für gesundheitliche Vorausverfügungen zu entwickeln, erscheint es überdies sinnvoll, auch verschiedene Ebenen menschlicher Zeitlichkeit auseinanderzuhalten. So lassen sich zunächst mindestens drei solcher Zeitebenen unterscheiden: (1) grundlegende Koordinaten und Parameter der menschlichen Existenz in der Zeit, wie etwa die Endlichkeit, Prozessualität und Irreversibilität des Lebens, (2) die stark durch soziale und kulturelle Vorgaben geprägte und mit ihnen variierende zeitliche Verlaufsstruktur und Stufenfolge des Lebens und schließlich (3) die individuelle Lebensgeschichte in ihrer unverwechselbaren, letztlich unabsehbaren und unplanbaren biographischen Verlaufsstruktur (Schweda
2020). Auf jeder dieser Ebenen ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen von Perspektiven guten Lebens in der Zeit für gesundheitliche Vorausverfügungen.
Was zunächst die
grundlegenden Koordinaten und Parameter der menschlichen Existenz in der Zeit angeht, so spielt gerade der Aspekt der Endlichkeit als Sterblichkeit offenkundig eine maßgebliche Rolle. Je nachdem, ob diese Endlichkeit vorrangig als grundlegende Voraussetzung oder aber als wesentliches Hindernis eines guten Lebens aufgefasst wird, ergeben sich andere Bewertungen und Schlussfolgerungen mit Blick auf den Umgang mit gesundheitlichen Vorausverfügungen. Im ersten Fall erscheint die ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben und Tod als ein durchaus wichtiges und sinnvolles Anliegen, was auch die Bereitschaft zur Beschäftigung mit und Abfassung von gesundheitlichen Vorausverfügungen erhöhen mag (Lynn et al.
2016). Im zweiten Fall dürfte es dagegen eher nahe liegen, die einschlägigen Themen und Fragestellungen zu meiden und entsprechende Überlegungen oder gar Vorkehrungen mit Bezug auf das eigene Lebensende entsprechend zu verweigern, aufzuschieben oder zu delegieren, etwa in Form von Vorsorgevollmachten oder Betreuungsverfügungen (Lynn et al.
2016). Doch nicht nur die äußere Veranlassung, sondern auch die konkrete inhaltliche Ausgestaltung gesundheitlicher Vorausverfügungen bleibt von den existenziellen Fragen, die sich auf dieser grundlegenden Ebene menschlicher Zeitlichkeit stellen, nicht unberührt. Das betrifft offenkundig an erster Stelle Präferenzen hinsichtlich der Möglichkeiten medizinischer Lebensverlängerung. So mag eine Akzeptanz der eigenen Endlichkeit, etwa im Sinne eines natürlichen Zyklus des menschlichen Lebens, eher den Wunsch nach einer Begrenzung medizinischer Maßnahmen am Lebensende begründen (Seymour et al.
2004). Wer in der Endlichkeit hingegen kein Gut zu erkennen vermag, sondern lediglich die ultimative Limitierung aller positiven Lebensmöglichkeiten, mag einer extensiveren Nutzung medizinischer Möglichkeiten der Lebenserhaltung oder -verlängerung aufgeschlossener gegenüberstehen (Seymour et al.
2004). Auch die Einsicht in die Prozessualität und Irreversibilität des menschlichen Lebensverlaufs kann eine erhebliche Bedeutung für die gesundheitliche Vorausplanung haben. So mag sie ein Bewusstsein für die Wandelbarkeit der Wünsche und Wertvorstellungen vermitteln, die gesundheitlichen Vorausverfügungen zu Grunde liegen, und damit die Notwendigkeit einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit und gegebenenfalls auch Revision von Vorausverfügungen plausibel erscheinen lassen. Neuere Ansätze des Advance Care Planning tragen diesem Umstand systematisch Rechnung, indem sie die Versorgungsplanung von vornherein als einen anhaltenden (Selbst‑)Verständigungsprozesses konzipieren (In der Schmitten et al.
2016).
Auch auf der Ebene der
zeitlichen Verlaufsstruktur und Stufenfolge des menschlichen Lebens ergeben sich entscheidende Gesichtspunkte für den Umgang mit gesundheitlichen Vorausverfügungen. So können kulturell vorgegebene Lebensverlaufsmodelle zunächst schon mit Blick auf die Anlässe und Motive entscheidend für die Bereitschaft zur Abfassung gesundheitlicher Vorausverfügungen sein. Sie können gleichsam einen „Fahrplan“ für die Lebensstrecke vorzeichnen und damit auch einen Maßstab für angemessene oder aber vermeintlich verfrühte bzw. verspätete Zeitpunkte für eine Befassung mit derartigen Fragen und Planungen bilden. So ist etwa noch immer die Auffassung verbreitet, gesundheitliche Vorausverfügungen seien eine Angelegenheit des höheren Lebensalters und beträfen jüngere Menschen noch nicht (Tripken und Elrod
2017). Auch auf der inhaltlichen Ebene der Ziele und Absichten können Vorstellungen von der zeitlichen Verlaufsstruktur des menschlichen Lebens in gesundheitliche Vorausverfügungen hineinwirken, indem sie etwa einen allgemeinen Erwartungshorizont künftiger Lebensperspektiven vorzeichnen (Furstenberg
2002). Das betrifft insbesondere auch Annahmen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit und Akzeptabilität gesundheitlicher Beeinträchtigungen im weiteren Lebensverlauf. Verbreitet ist etwa die Vorstellung, gewisse körperliche oder geistige Einschränkungen seien im höheren Lebensalter eher hinzunehmen als in jungen Jahren, wobei hier nicht selten stereotype defizitorientierte und defätistische Altersbilder im Spiel sind, die einer kritischen Reflexion bedürfen (Altenbericht
2010; Beyer et al.
2017). Auch die damit zusammenhängende Intuition eines angemessenen oder aber verfrühten bzw. verspäteten Zeitpunktes für Sterben und Tod gehört hierher und dürfte für Entscheidungen über den Nutzen bzw. die Vergeblichkeit und Unangemessenheit lebenserhaltender Maßnahmen von einiger Bedeutung sein (Jecker und Schneiderman
1994). Eine reflexive Einsicht in die historische und soziokulturelle Variabilität solcher Lebensverlaufsmodelle sensibilisiert nicht zuletzt für die Relevanz des Alters bzw. der Generationszugehörigkeit sowie des sozialen und kulturellen Hintergrundes einer Person für die inhaltliche Ausgestaltung und Interpretation ihrer Verfügung, aber auch für den gesellschaftlichen Wandel von Ansprüchen und Erwartungen an Lebensphasen wie gerade das höhere Alter (Schicktanz
2008; Ilkilic
2008).
Was schließlich die Ebene der
individuellen Lebensgeschichte angeht, also des unabsehbaren schicksalhaften Verlaufs und der unverwechselbaren narrativen Strukturierung des Lebens, so ergeben sich auch hier in mehreren Hinsichten wichtige Implikationen für gesundheitliche Vorausverfügungen. In der jüngeren philosophischen Auseinandersetzung mit der Zeitgestalt des guten Lebens wird etwa die Frage erörtert, inwiefern nicht nur die Menge und Dauer, sondern auch die konkrete Reihenfolge glücklicher oder wertvoller Ereignisse oder Phasen für die Bewertung eines Lebens insgesamt eine Rolle spielt (Velleman
1991; Campbell
2015). In diesem Zusammenhang ist etwa die These vertreten worden, dass ein Leben, das in dieser Hinsicht einer aufsteigenden Kurve folge, einem absteigenden Verlauf vorzuziehen sei (Kauppinen
2012; Dorsey
2015). Mit Blick auf Anlässe und Motive für die Abfassung gesundheitlicher Vorausverfügungen unterstreicht diese individuelle Zeitebene die Kontingenz und Unabsehbarkeit des konkreten Verlaufs des individuellen Lebens und vermag so je nach Lebensorientierung sowohl Entscheidungen für als auch solche gegen gesundheitliche Vorausverfügungen zu begründen. Sie mag einerseits die Notwendigkeit der Planung und Absicherung der Zukunft begründen, andererseits aber auch die Überzeugung von der Vergeblichkeit allen Planens nahelegen. Auf der Ebene der inhaltlichen Ausgestaltung wiederum verweist sie auf die Relevanz der Projektstruktur des individuellen Lebens und die Frage der Verwirklichung bzw. Unabgeschlossenheit von Lebensprojekten. Und schließlich erschließt sich von hier aus auch die Bedeutung biographischer Narrative im Zusammenhang gesundheitlicher Vorausverfügungen, etwa die Vorstellung der Vollendung eines Zyklus oder das Bild einer offenen Reise ins Unbekannte. In diesem Sinne heißt es etwa in der Sterbenswort-Studie: „Die Wünsche auf der psychologischen Dimension sind stärker auf die eigene Person und Biografie ausgerichtet, so etwa das Bestreben, am Ende des Lebens zufrieden zurückschauen zu können. Die Teilnehmer beziehen sich damit nicht auf die Sterbephase an sich, sondern darauf, was vorher ,im Leben‘ dafür zu tun ist. Die Lebensverlaufsforschung belegt, dass es für Menschen mit zunehmendem Alter wichtiger wird, sich zu erinnern und das eigene Leben zu beurteilen. Ältere entwickeln dabei häufig ein harmonischeres Verhältnis zu ihrer eigenen Biografie: Das Leben erscheint in der Rückschau stimmig“ (Heiermann et al.
2020, S. 37). Dieses Bestreben, dem eigenen Leben im Rückblick eine kohärente narrative Struktur zu verleihen, kann auch einen erheblichen Einfluss auf die Sicht des Lebensendes und damit auch auf die Ausgestaltung gesundheitlicher Vorausverfügungen haben (Streeck
2019).