Unter dem Begriff „second victim“ versteht man eine Person, die indirekt von einem traumatischen Ereignis betroffen ist; dieses Phänomen wurde erstmals im Jahr 2000 beschrieben [
1]. Speziell im medizinischen Kontext bezieht sich der Begriff auf Gesundheitsdienstleister, die nach einem Fehler oder einem unerwarteten (negativen) Outcome eines medizinischen Eingriffs selbst emotional belastet oder traumatisiert sind.
Während der Patient und seine Angehörigen bei einem unerwünschten Ereignis wie etwa einer fehlerhaften Behandlung die ersten Betroffenen, also „first victims“ sind, können die beteiligten Ärztinnen und Ärzte oder andere Gesundheitsdienstleister durchaus ebenfalls als Second victims betroffen sein. Diese Second victims können u. a. mit Schuldgefühlen, Angstzuständen, Selbstzweifeln und emotionaler Erschöpfung zu kämpfen haben. Das Konzept des Second victim betont die Notwendigkeit von Unterstützungssystemen und Selbstfürsorge für medizinisches Personal, um seine emotionale Gesundheit zu schützen und es bei der Bewältigung solcher Erfahrungen zu unterstützen. Es ist im Grunde erstaunlich, dass dieses Phänomen angesichts seiner wahrscheinlich großen Häufigkeit noch keine größere Aufmerksamkeit gefunden hat. Tatsächlich fehlen bislang nähere Daten zu Prävalenz, Symptomatik und somit zum Ausmaß dieser Problematik in der Pädiatrie.
Zusammenfassung der Studie
Diese Studie wurde von der The Second Victim Association Austria initiiert und mithilfe der Österreichischen Gesellschaft für Kinder und Jugendheilkunde (ÖGKJ) durchgeführt. Dabei handelt es sich um eine bundesweit durchgeführte, anonyme Querschnittstudie mittels einer Online-Befragung unter den österreichischen Kinderärztinnen und Kinderärzten unter Verwendung des standardisierten SeViD-Fragebogens (Second Victims in Deutschland).
Der SeViD-Fragebogen wurde an die rund 2100 Mitglieder der ÖGKJ ausgesandt und konnte eine Rücklaufquote von 19,7 % erzielen; dies entspricht 414 teilnehmenden österreichischen Kinderärzten und Kinderärztinnen. Die meisten Teilnehmer waren weiblich (70 %), mit einem Altersgipfel von 41 bis 50 Jahren und einer Berufserfahrung von mehr als 15 Jahren.
Besonders auffallend ist die Beobachtung, dass rund 73 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Begriff Second victim vor der Teilnahme an dieser Umfrage nicht kannten, jedoch nach entsprechender Information über dieses Phänomen sich immerhin 89 % selbst als Second victim bezeichneten. Der Hauptgrund dafür war der unerwartete Tod eines Patienten, gefolgt von aggressivem Verhalten eines Patienten oder dessen Angehörigen. Rund 66 % der Betroffenen hatten sich innerhalb eines Monats von diesem Ereignis erholt, jedoch dauerte das Second-victim-Gefühl bei rund 5,5 % über ein Jahr lang an. Die Beschwerden umfassten hauptsächlich Selbstzweifel, Flashbacks und Schlaflosigkeit. Die Angst vor juristischen Folgen wurde nur von 12,3 % der Befragten geäußert.
Kommentar
Dieser Fragebogenstudie wurde bereits zuvor im Pflegebereich mit einer Prävalenz von 60 % [
2] sowie bei angehenden Fachärzten und Fachärztinnen für innere Medizin mit einer Prävalenz von 59 % [
3] durchgeführt. Es ist somit durchaus erstaunlich, dass österreichische Kinderärztinnen und Kinderärzten mit rund 89 % eine deutlich höhere Prävalenz, gemessen mit dem SeViD-Fragebogen, aufweisen. Die Autoren vermuten einen größeren Anteil an im ambulanten Bereich tätigen Kolleginnen und Kollegen als eine mögliche Ursache. Grundsätzlich könnte es sich allerdings auch um eine spezifische und häufige Mehrbelastung in der Pädiatrie handeln. Naturgemäß könnte ein „sample bias“ dadurch vorliegen, dass jene Kolleginnen und Kollegen, die betroffen waren, eher bereit waren, diesen Fragebogen auszufüllen, als solche, die keine einschlägigen Erfahrungen gemacht hatten.
Präventionsstrategien und Interventionsprogramme sollten jedenfalls angesichts der Häufigkeit des Phänomens angedacht und implementiert werden. Hier wären folgende Ansätze überlegenswert:
1.
Peer-Support-Programme: Viele Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen haben Peer-Support-Programme eingerichtet, bei denen erfahrene Kolleginnen und Kollegen oder speziell geschulte Second victims den Betroffenen als Ansprechpartner dienen. Diese Personen können ihnen bei der Verarbeitung des Ereignisses helfen, emotionale Unterstützung bieten und Ressourcen aufzeigen.
2.
Psychologische Betreuung: Professionelle Psychologen oder Therapeuten können Second victims dabei unterstützen, ihre Gefühle zu verarbeiten, mit Stress umzugehen und Wege zur Bewältigung des Erlebten zu finden. Sie können individuelle Beratung und therapeutische Interventionen anbieten.
3.
Schulungen und Trainings: Einige Organisationen bieten spezielle Schulungen und Trainings für Second victims an. Diese können das Verständnis für den Umgang mit solchen Ereignissen vertiefen, Strategien zur Bewältigung entwickeln und den Umgang mit Betroffenen verbessern.
4.
Institutionelle Unterstützung: Arbeitgeber und Organisationen im Gesundheitswesen können Unterstützung in Form von organisatorischen Maßnahmen bieten. Dazu gehören beispielsweise eine Kultur der Offenheit und des Lernens aus Fehlern, die Implementierung von unterstützenden Richtlinien und Protokollen sowie die Bereitstellung von Zeit und Ressourcen für die Bewältigung von Second-victim-Ereignissen ebenso wie eine Rechtsberatung.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Art und Verfügbarkeit dieser Unterstützungsangebote je nach Organisationseinheit definiert werden sollte. Jedenfalls aber wird es wird es notwendig sein, mehr „awareness“ für dieses Phänomen, das offenbar noch nicht sehr bekannt ist, zu schaffen.
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