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Erschienen in: Die Ophthalmologie 12/2023

Open Access 22.08.2023 | Retinitis pigmentosa | Originalien

Erbliche Netzhautdystrophien in Deutschland – Versorgungsstrukturelle und diagnostische Herausforderungen

verfasst von: Hanno J. Bolz, Constanze L. Kochs, Frank G. Holz, Franziska Bucher, PD Dr. Dr. med. Philipp Herrmann, FEBO

Erschienen in: Die Ophthalmologie | Ausgabe 12/2023

Zusammenfassung

Hintergrund

Hereditäre Netzhautdystrophien („inherited retinal diseases“ [IRD]) zählen zu den seltenen Augenerkrankungen und stellen hohe Herausforderungen an die Diagnostik dar. Eine lückenhafte Versorgungsstruktur mit wenigen hoch spezialisierten Zentren in Deutschland, Fehldiagnosen aufgrund fehlender molekulargenetischer Abklärung sowie ein fehlendes Zentralregister zur Erfassung von IRDs führen dazu, dass verlässliche Aussagen zu Prävalenz und Verteilung von IRDs in Deutschland fehlen.

Methoden

Anhand von Stichprobendaten eines ophthalmologischen und eines molekulargenetischen Schwerpunktzentrums sowie anonymisierter Krankenkassendaten der InGef-Forschungsdatenbank wurde neben der Erfassung von Informationen zur phäno- und genotypischen Verteilung der IRD deren Prävalenz in Deutschland abgeschätzt.

Ergebnisse

Das mediane Einzugsgebiet des ophthalmologischen Schwerpunktzentrums betrug 60 km. Die häufigsten Diagnosen waren Retinitis pigmentosa, Makuladystrophie und allgemein Netzhautdystrophie. Bei 87 % der Patienten mit klinischem Verdacht auf IRD erfolgte eine molekulargenetische Testung, wobei deutliche Unterschiede der Häufigkeiten in den Alterskohorten beobachtet wurden. Die molekulargenetische Aufklärungsrate der Stichprobe betrug 51 %. Die mittels der InGef-Forschungsdatenbank bestimmte Prävalenz hereditärer Netzhautdystrophien für Deutschland lag bei ca. 1:1150.

Schlussfolgerung

Eine adäquate Versorgung mit der insbesondere von jüngeren Patienten gewünschten molekulardiagnostischen Abklärung erfordert für viele Patienten lange Anfahrtswege. Verlässlichere Zahlen zur deutschlandweiten Prävalenz setzen eine routinemäßige molekulargenetische Abklärung und ein nationales Register zur IRD-Erfassung voraus.
Hinweise
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Hereditäre Netzhautdystrophien („inherited retinal diseases“ [IRD]) gehören zu den seltenen Augenerkrankungen und stellen aufgrund ihrer Heterogenität große Herausforderungen für die Diagnostik dar. Verlässliche Zahlen zur Prävalenz sowie phäno- und genotypischen Verteilung in Deutschland fehlen jedoch. Dieser Arbeit setzte es sich zum Ziel, anhand von Stichprobendaten eines ophthalmologischen und eines molekulargenetischen Schwerpunktzentrums sowie anonymisierter Krankenkassendaten diese Parameter für Deutschland abzuschätzen.

Hintergrund

Hereditäre Netzhautdystrophien (engl. „inherited retinal diseases“ [IRD]) stellen eine heterogene Gruppe seltener genetischer Augenerkrankungen dar. Kennzeichnend ist meist ein progredienter Krankheitsverlauf, der häufig zur Erblindung führt [10]. Aktuell sind Mutationen in bis zu 280 Genen und etwa 320 Genloci identifiziert worden, wobei alle Erbgänge und eine hohe Heterogenität der IRD hinsichtlich des Phänotyps als auch der Genetik zu beobachten sind [1, 20, 23].
Pathophysiologisch lassen sich IRD in solche mit primär peripherer (u. a. Retinitis pigmentosa [RP]) oder zentraler Manifestation (u. a. Makuladystrophie [MD], Zapfen-Stäbchen-Dystrophie [ZSD]) einteilen, wobei die Nomenklatur oft uneinheitlich verwendet wird und nicht scharf voneinander abgegrenzt werden kann. Abseits phänotypischer Zuordnungen ist grundsätzlich eine Zunahme genspezifischer Benennungen zu beobachten (wie ABCA4- oder RPE65-assoziierte IRD). Neben progredienten Erkrankungen kann eine kleinere Gruppe von wenig fortschreitenden, teils stationären Erkrankungen benannt werden (u. a. Achromatopsie [ACHM]). Zudem kann in auf das Auge begrenzte Erkrankungen und syndromale Erkrankungen (z. B. Usher- und Bardet-Biedl-Syndrom) unterteilt werden.
Seit dem Einzug von Verfahren der Hochdurchsatzsequenzierung (Next-Generation Sequencing [NGS]) in die diagnostische Routine und der damit verbundenen Möglichkeit, größere Genpanels kosteneffizient zu sequenzieren, lässt sich bei den meisten Patienten die genetische Ursache der IRD identifizieren [3, 4]. In Verbindung mit der Entwicklung gen- und auch mutationsspezifischer Therapien wird dies zukünftig zunehmend gezielte Behandlungen der unterschiedlichen retinalen Erkrankungen erlauben. Dies ist mit dem seit 2019 zugelassenen Medikament Voretigen Neparvovec (Luxturna®, Novartis) bereits der Fall. Es ist speziell zur Behandlung von Erwachsenen und Kindern mit IRD aufgrund biallelischer RPE65-Mutationen zugelassen [8, 17, 19]; Voraussetzung ist, dass noch ausreichend funktionale Netzhautzellen vorhanden sind. Zudem befinden sich aktuell mehr als 20 weitere genspezifische Therapien zur zielgerichteten Behandlung verschiedener IRD in klinischer Erprobung [15, 24].
Allerdings wird die Versorgung der Patienten in Deutschland durch eine komplexe Versorgungsstruktur erschwert, in der die Diagnosen oft nicht regelhaft molekulargenetisch abgesichert werden und es nur wenige spezialisierte Zentren sowie wenige auf IRD spezialisierte Humangenetiker gibt.
Die weltweite Prävalenz von IRD wird auf etwa 1:3000 bis 1:5000 geschätzt; in Deutschland geht man von ca. 30.000 bis 70.000 Betroffenen aus [1, 6, 9]. Aufgrund der fehlenden systematischen Erfassung der Erkrankungen in Deutschland, z. B. durch zentrale Register, und nur wenigen für Deutschland publizierten Daten [22] ist die Datenlage zur Gesamtprävalenz von IRD und der Prävalenz der verschiedenen Geno- bzw. Phänotypen in Deutschland jedoch unzureichend. Erschwerend kommt das Fehlen valider Zahlen hinsichtlich des Anteils an Patienten mit molekulargenetischer Abklärung der Diagnose hinzu.
Die hier vorgestellte Arbeit setzte sich zum Ziel, die phäno- bzw. genotypische Verteilung von IRD inklusive der Erfassung von Informationen zur standardmäßigen Einbindung molekulargenetischer Diagnostik anhand von Stichprobenpools ausgewählter Schwerpunktzentren abzuschätzen sowie die deutschlandweite Prävalenz von IRDs über eine systematische Abfrage von Krankenkassendaten zu ermitteln.

Material und Methoden

Abschätzung genotypischer bzw. phänotypischer Verteilung

Die geno- bzw. phänotypische Verteilung wurde anhand von Stichprobenpatientenpools abgeschätzt. Die Ermittlung der Verteilung erfolgte durch anonymisierte Auswertung von Patientendaten aus dem Senckenberg Zentrum für Humangenetik in Frankfurt am Main sowie der Spezialsprechstunde für seltene Netzhauterkrankungen der Universitäts-Augenklinik in Bonn. Die Stichprobe des Zentrums in Bonn wurde im Zeitraum zwischen März und Juni 2022 generiert, die Stichprobe des Zentrums in Frankfurt im Zeitraum des 1. Quartals 2022. Beide Stichproben umfassen 100 Patienten.
Die genotypische Zuordnung erfolgte überwiegend durch NGS der bekannten IRD-Gene; bei sehr klaren Phänotyp-Genotyp-Korrelationen wurden in Einzelfällen auch gezielte konventionelle (Sanger‑)Sequenzierungen von Einzelgenen vorgenommen.
Die phänotypische Zuordnung der Patienten erfolgte durch klinische Untersuchung, multimodale Bildgebung sowie elektrophysiologische (Elektroretinogramm) und Gesichtsfelduntersuchungen. Die Daten wurden zusätzlich stratifiziert nach Alter und bezüglich elterlicher Konsanguinität (sofern bekannt) ausgewertet.

Abschätzung der Gesamtprävalenz über die Abfrage von Krankenkassendaten

Die Abfrage der Krankenkassendaten erfolgte als retrospektive Kohortenstudie auf Basis von anonymisierten Abrechnungsdaten der Forschungsdatenbank der InGef – Institut für angewandte Gesundheitsforschung Berlin GmbH. Für die aktuelle Studie wurde eine für die Alters- und Geschlechtsverteilung der deutschen Bevölkerung repräsentative Stichprobe verwendet, die etwa 4 Mio. Versicherte aus 57 gesetzlichen Krankenkassen umfasst, was etwa 5 % der deutschen Gesamtbevölkerung entspricht [14]. Alle Daten auf Patienten- und Leistungserbringerebene sind entsprechend den deutschen Datenschutzbestimmungen und Bundesgesetzen anonymisiert. Die Zustimmung einer Ethikkommission war daher nicht erforderlich. Maßgebliches Einschlusskriterium für alle Patienten war die vollständige Versicherung im jeweiligen Analysejahr. Für die Prävalenzberechnung erfolgte eine Querschnittanalyse vom 1. Quartal 2015 bis zum 1. Quartal 2020, separiert nach Jahren, wobei das entsprechende Beobachtungsjahr als Analysejahr definiert wurde. Zusätzlich wurde die Prävalenz stratifiziert nach Alter und Geschlecht für die einzelnen Beobachtungsjahre ausgewertet. Die ICD-10-GM-Codes H35.5 (Hereditäre Netzhautdystrophien) und H31.2 (Hereditäre Dystrophien der Aderhaut) dienten hierbei zur Identifikation der Patienten in der Datenbank. Abfragen zur zugrunde liegenden diagnostischen Methode, molekulargenetischen Testung und humangenetischen Beratung für inzidente Patienten mit 5 Jahren diagnosefreiem Vorbeobachtungszeitraum für das Jahr 2019 erfolgten über die Codes des einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM), 06210–06212 EBM, 06333 EBM, 11511–11514 EBM, 11322 EBM, 11230 EBM und 11233 EBM. Berücksichtigt wurden hierbei Abrechnungen im Zeitraum von einem Quartal vor und bis zu vier Quartalen nach Erstdiagnose.

Ergebnisse

Versorgungsstruktur und phänotypische sowie genotypische Verteilung

Zur Analyse der phänotypischen Verteilung verschiedener IRD wurde im Zeitraum zwischen März und Juni 2022 in der Sprechstunde für seltene Netzhauterkrankungen der Universitätsklinik Bonn eine Stichprobe von 100 konsekutiven Patienten untersucht. Das mediane Einzugsgebiet des ophthalmologischen Schwerpunktzentrums in Bonn lag hier bei etwa 60 km (Interquartilbereich: 34,5 km|147,0 km) und maximalen Entfernungen von knapp 500 km. Das Durchschnittsalter der Patienten betrug 41,7 ± 16,9 Jahre bei einem Anteil weiblicher Patienten von 52 %. Den höchsten Anteil an Patienten stellten die 36- bis 60-Jährigen, wobei nur geringe Unterschiede zwischen den Geschlechtern beobachtet wurden (Abb. 1a). Der mit Abstand häufigste diagnostizierte IRD-Phänotyp in der Bonner-Stichprobe war „nicht-syndromale Retinitis pigmentosa“, gefolgt von „anderen Makuladystrophien, Zapfen-Stäbchen-Dystrophien und Morbus Stargardt“, sowie „andere Netzhautdystrophien“ (Abb. 1b).
Allen Patienten der Bonner Sprechstunde wurde eine molekulargenetische Abklärung angeboten. Insgesamt wurde bei 87 % der Patienten die klinische Diagnose durch eine molekulargenetische Testung validiert bzw. die Testung veranlasst; bei den über 60-Jährigen erfolgte deutlich häufiger (26,7 %) und bei den 19- bis 35-Jährigen deutlich seltener (3,4 %) keine Testung (Abb. 2). Gründe für das Ablehnen einer molekulargenetischen Abklärung, insbesondere im Alter über 60 Jahren, waren Unsicherheiten der Patienten hinsichtlich der Konsequenzen für das eigene Leben und der Wunsch, sich zuvor mit potenziell involvierten jüngeren Familienangehörigen zu beraten. Der Versicherungsstatus (gesetzlich vs. privat) spielte keine Rolle.
Trotz quantitativer Unterschiede zum Patientenpool des Zentrums in Bonn zählten auch bei der Patientenstichprobe des Senckenberg Zentrum für Humangenetik in Frankfurt am Main andere RP, MD, Netzhautdystrophien und Morbus Stargardt zu den häufigsten Verdachtsdiagnosen und machten insgesamt gut zwei Drittel aller Diagnosen aus (Abb. 3). Der Großteil (58 %) der molekulargenetischen Diagnoseabklärung erfolgte generell meist mittels NGS des „klinischen Exoms“ (Panel der zum Zeitpunkt seiner Konzipierung bekannten menschlichen Krankheitsgene bzw. seiner proteinkodierenden Abschnitte) und nur zu einem kleineren Teil (37 %) durch NGS des Gesamtexoms (proteinkodierende Abschnitte aller menschlichen Gene). Lediglich in 5 % der Fälle wurde eine Einzelgensequenzierung zur Identifikation des krankheitsverursachenden Gens durchgeführt. Insgesamt lag die molekulargenetische Aufklärungsquote (d. h., der Phänotyp konnte molekulargenetisch sehr wahrscheinlich oder sicher geklärt werden durch den Nachweis wahrscheinlich pathogener [ACMG Klasse-4-] oder pathogener [Klasse-5-]Varianten) bei 51 %. Bei 13 % der Patienten, bei denen anhand der Familienanamnese zu etwa gleichen Teilen entweder ein autosomal-rezessiver oder -dominanter Erbgang angenommen wurde, blieb die der angenommenen IRD zugrunde liegende Ursache unklar (kein Nachweis von Klasse-4- oder Klasse-5-Varianten in mit dem jeweiligen Phänotyp assoziierten Genen), bei weiteren 11 % wurde zumindest eine Anlageträgerschaft für mindestens eine pathogene Variante festgestellt (in der Regel: nur monoallelischer Nachweis einer Klasse-4- oder Klasse-5-Variante in einem mit einer autosomal-rezessiven IRD assoziierten Gen). Bei 25 % der Patienten ergab die molekulargenetische Testung ein komplett unauffälliges Bild und somit auch keinen Hinweis auf den auch anhand ihrer Familienanamnese unklaren Erbgang. Am häufigsten wurden autosomal-rezessive Mutationen identifiziert (Abb. 3b). Das Durchschnittsalter der Patienten stieg mit zunehmender Unschärfe des molekulargenetischen Testergebnisses, d. h. das durchschnittliche Alter der Patienten stieg von 30,2 Jahren bei geklärter Ursache über 39,2 Jahre bei mutmaßlich geklärter Ursache bis auf 48,8 Jahre bei unklarer Ursache (Abb. 3b).
Elterliche Konsanguinität wurde bei ca. einem Viertel (27 %) der Patienten vermutet; bei 11 % der Patienten konnte dies nicht abschließend geklärt werden. Der Anteil an Patienten mit positiver Familienanamnese (FA) war unter denen mit geklärter genetischer Ursache am höchsten (48,1 %). Dieser Anteil war bei Patienten mit mutmaßlich geklärter genetischer Ursache und bei Patienten mit multipler Anlageträgerschaft um mehr als die Hälfte reduziert (21,1 % bzw. 20,0 %). Obgleich eine positive FA in der Regel mit einer besseren Abklärung der genetischen Ursache einhergeht, war trotz positiver FA in 45,5 % der Fälle die genetische Ursache unklar (Abb. 4).

Abschätzung der Prävalenz für IRD in Deutschland

Die über die InGef-Forschungsdatenbank ermittelte Prävalenz von IRD lag gemittelt über die Beobachtungsjahre bei etwa 115 Fällen pro 100.000 Patienten (≙ 1:1150), was etwa 72.000 Patienten in Deutschland entspricht (Tab. 1).
Tab. 1
Prävalenz von IRD in den Jahren 2015 bis 2020 (Quartal 1). (Datenbasis: InGef Forschungsdatenbank)
Jahr
Stichprobe, n
Prävalenz (95 %-KI) pro 100.000
2015
4.032.441
120,3 (117,0; 123,8)
2016
4.019.374
114,7 (111,4; 118,0)
2017
4.048.560
115,4 (112,1; 118,8)
2018
4.070.527
112,0 (108,7; 115,2)
2019
4.092.052
113,2 (110,0; 116,5)
2020 (Q1)
4.124.562
  57,6 (55,3; 60,0)
Das durchschnittliche Alter der prävalenten IRD-Patienten betrug 64,4 ± 19,4 Jahre, bei einem Anteil weiblicher Patientinnen von 55,8 % (Jahr 2018). Über beide Geschlechter hinweg zeigten sich höhere Prävalenzen mit steigendem Alter (Abb. 5); die Alterskohorte der über 60-Jährigen machte hierbei über 50 % aus.
Gemäß der Auswertung der Abrechnungsdaten des einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) erfolgte bei lediglich 2,0 % der im Jahr 2019 neu diagnostizierten Patienten mit hereditären Netzhauterkrankungen eine molekulargenetische Testung, wobei hauptsächlich der EBM-Code 11513 EBM „Postnatale Mutationssuche zum Nachweis oder Ausschluss einer krankheitsrelevanten oder krankheitsauslösenden konstitutionellen genomischen Mutation“ Anwendung fand. Über die Hälfte (57,9 %) der Testungen erfolgte hierbei bei Patienten zwischen 36 und 60 Jahren. Bei lediglich unter 1 % der im Jahr 2019 neu diagnostizierten Patienten wurde laut Abrechnungsdaten eine humangenetische Beratung durchgeführt (Abb. 6).

Diskussion

Das hohe mediane Einzugsgebiet des ophthalmologischen Schwerpunktzentrums in Bonn spiegelt die aktuelle Versorgungslandschaft in Deutschland wider, in der IRD-Patienten für eine adäquate Versorgung relativ weite Wege in Kauf nehmen müssen. In ophthalmologischen Schwerpunktzentren scheint die molekulargenetische Abklärung der Diagnose, wie von den aktuellen Leitlinien empfohlen, auf breiter Ebene durchgeführt zu werden [6]. Die niedrigere Rate bei den über 60-Jährigen kann unter Umständen auf eine allgemeine Skepsis der älteren Bevölkerung bezüglich genbasierter Untersuchungen oder auf die mangelnde Notwendigkeit spezialisierter Therapien für ältere Patienten zurückzuführen sein.
Obgleich die exakten prozentualen Werte divergieren, decken sich qualitativ die phänotypische Verteilung der IRD der Stichprobe des ophthalmologischen Zentrums in Bonn und des humangenetischen Zentrums in Frankfurt mit aktuellen Daten aus der Literatur, die RP und MD als häufigste Phänotypen beschreiben [22].
Nur in gut 50 % der Fälle konnte die der Krankheit zugrunde liegende molekulargenetische Ursache identifiziert werden. Dies weicht von der in der Literatur für NGS-basierte Ansätze beschriebenen Aufklärungsquote von bis zu 74 % ab [2]. Ein möglicher Grund hierfür kann der vergleichsweise kleine Umfang der Stichprobe sein. Darüber hinaus kann der relativ hohe Anteil von Sequenzierungen klinischer Exome (erst kürzlich neu beschriebene Krankheitsgene werden dabei nicht erfasst) bzw. der vergleichsweise geringe Anteil an Exomsequenzierungen die Identifikation der verursachenden Mutationen in einigen Fällen verhindert haben.
Obgleich auch bei der Frankfurter Stichprobe beobachtet wurde, dass eine positive FA mit einer besseren Abklärung der genetischen Ursache verbunden ist, wurde dennoch auch für knapp die Hälfte der Fälle mit ungeklärter genetischer Ursache eine bekannte familiäre Vorbelastung angegeben. Zum Teil könnten die Wahrnehmung der Patienten bezüglich der familiären Vorbelastung und die korrekte Einordung der Krankheiten (Lebensstil- und altersabhängige Erkrankungen im Gegensatz zu tatsächlichen IRDs) nicht korrekt gewesen sein. Es ist aber auch davon auszugehen, dass die IRDs einiger Patienten – sowohl mit negativer als auch positiver FA – auf Defekten in noch nicht bekanntermaßen mit IRDs assoziierten Genen beruhen, die deshalb der Detektion entgingen.
Die Ergebnisse der Abrechnungsdaten der InGef-Forschungsdatenbank decken sich grob mit den epidemiologischen Daten aus anderen Ländern und den bisher spärlichen für Deutschland publizierten Daten. Die ermittelte Prävalenz hereditärer Netzhautdystrophien von etwa 115 Fällen pro 100.000 Einwohner (≙ 1:1150) liegt hierbei im Bereich aktueller Schätzungen bzw. teilweise über diesen [6, 7, 9, 11].
Bereits in früheren Publikationen zur Verwendung von ICD-10-Codes seltener Augenerkrankungen wurde eine substanzielle Diskrepanz bei der ICD-10-Kodierung zwischen unterschiedlichen elektronischen Patientenaktensystemen beobachtet und die damit verbundene Beeinflussung größerer Datensätze betont [18]. Hinzu kommen das Fehlen einer international harmonisierten Empfehlung zur Kodierung sowie die damit verbundene behelfsweise Doppelkodierung seltener Erkrankungen durch ICD-10-Codes und Orphan-Codes [16]. Die Abweichungen bei der über die Krankenkassenabfrage ermittelten Prävalenz lassen sich somit möglicherweise durch die allgemein schwierige und komplexe Einteilung der Erkrankungen sowie die Unschärfe der zur Abfrage verwendeten ICD-10-Codes erklären (speziell die Abgrenzung zum ICD-10-Code H35.3 „Degeneration der Makula und des hinteren Poles“). Degenerationen der Makula wie die altersabhängige Makuladegeneration (AMD) treten weit häufiger auf und steigen mit zunehmendem Alter deutlich an (Prävalenz der unter 75-Jährigen etwa 10 %) [5, 13], was die in der Krankenkassenabfrage ermittelte hohe Prävalenz der älteren Bevölkerungsgruppe erklären könnte, die überdies nicht bei der Stichprobe des ophthalmologischen Schwerpunktzentrums beobachtet wurde und im Widerspruch zur frühen Krankheitsmanifestation in den ersten Lebensjahren steht [12, 21].
Auch die bei der Krankenkassenabfrage ermittelte sehr niedrige Rate molekulargenetischer Diagnoseabsicherung (und humangenetischer Konsultation) weicht substanziell von den Stichprobendaten des ophthalmologischen Schwerpunktzentrums ab und kann zumindest zum Teil auf die in früheren Leitlinien fehlende standardmäßige Abklärung der Diagnose durch molekulargenetische Testung zurückzuführen sein oder aber auch auf die oben beschriebene nicht selten zu beobachtende inkorrekte Verwendung der ICD-10- bzw. EBM-Codes bei seltenen Erkrankungen.
Insgesamt zeigen insbesondere die Daten der Krankenkassenabfrage, dass die Ermittlung der Prävalenz von IRDs in Deutschland weiterhin eine große Herausforderung darstellt, und machen zudem deutlich, dass verlässliche Daten zu Prävalenzen neben der Etablierung eines zentralen Registers routinemäßig molekulargenetisch abgesicherte Diagnosen erfordern.

Fazit für die Praxis

  • Für eine adäquate Versorgung nehmen Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen (IRD) lange Wege in Kauf.
  • Die Diagnosen Retinitis pigmentosa und Makuladystrophie werden am häufigsten beobachtet.
  • Die molekulargenetische Abklärung spielt für die Abklärung von IRDs eine entscheidende Rolle und wird bereits jetzt in den Schwerpunktzentren bei der Mehrheit der IRD-Patienten durchgeführt.
  • Die ermittelte Prävalenz von IRDs liegt in Deutschland bei 1:1150 und somit im oberen Bereich aktueller Schätzungen.

Förderung

Die Studie zur Abfrage der Krankenkassendaten über die InGef-Forschungsdatenbank wurde finanziert von der Novartis Pharma GmbH. Markos Schulte (CROLLL GmbH) lieferte Unterstützung beim Medical Writing.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

H.J. Bolz und C.L. Kochs geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. F.G. Holz erhielt finanzielle Kompensation für Berater- und Referententätigkeiten sowie Forschungsförderung (FocusIRD [IIT-Studie]; MLTW888A_FVHMO001) von Gyroscope, Janssen und Novartis Pharma GmbH. Er ist Teil des Executive Boards von EURETINA, der Deutschen Gesellschaft für Ophthalmologie, dem Club Jules Gonin sowie Mitglied des Scientific Boards von Pro Retina Deutschland e. V. F. Bucher ist Angestellte der Novartis Pharma GmbH. P. Herrmann erhielt finanzielle Kompensation für Berater- und Referententätigkeiten sowie Forschungsförderung (FocusIRD [IIT-Studie]; MLTW888A_FVHMO001) von Janssen und Novartis Pharma GmbH. Er ist Mitglied des Arbeitskreises „Klinische Fragen“ von Pro Retina Deutschland e. V. Die Autoren erhielten keinen finanziellen Ausgleich von der Novartis Pharma GmbH für die Unterstützung bei der Dateninterpretation und der Manuskripterstellung.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
4.
Zurück zum Zitat Bolz HJ, Kellner U, Priglinger S (2020) Gendiagnostik und -therapie in der Augenheilkunde. Z Prakt Augenheilkd 41:415–427 Bolz HJ, Kellner U, Priglinger S (2020) Gendiagnostik und -therapie in der Augenheilkunde. Z Prakt Augenheilkd 41:415–427
Metadaten
Titel
Erbliche Netzhautdystrophien in Deutschland – Versorgungsstrukturelle und diagnostische Herausforderungen
verfasst von
Hanno J. Bolz
Constanze L. Kochs
Frank G. Holz
Franziska Bucher
PD Dr. Dr. med. Philipp Herrmann, FEBO
Publikationsdatum
22.08.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Ophthalmologie / Ausgabe 12/2023
Print ISSN: 2731-720X
Elektronische ISSN: 2731-7218
DOI
https://doi.org/10.1007/s00347-023-01903-8

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